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Speech by Johannes Rau, President o the Federal Republic of Germany at the Festive Dinner Hosted in Honour of the Estonian President Lennart Meri on November 7, 2000, at Bellevue
07.11.2000

Herr Präsident,
liebe Frau Meri,
verehrte Gäste,

gelegentlich ist die Frage zu hören, ob Staatsbesuche überhaupt noch zeitgemäß seien. Ist nicht das Gespräch zwischen den Politikern verschiedener Länder, so wird gefragt, so dicht und so intensiv geworden, dass wir auf dieses traditionelle Instrument der Pflege zwischenstaatlicher Beziehungen verzichten können?

Schon ein Blick in unser alltägliches Leben zeigt uns, wie wichtig es ist, gelegentlich inne zu halten, Bilanz zu ziehen und den Alltag durch besondere Ereignisse zu gestalten. Staatsbesuche geben uns die Gelegenheit, historische Verbundenheit zu dokumentieren, die Summe unserer Beziehungen zu ziehen und ein befreundetes Land zu ehren. Daher freue ich mich sehr darüber, dass heute vor dem Schloss Bellevue die blau-schwarz-weiße Fahne Estlands weht.

Herzlich willkommen, Herr Präsident!

In Ihrem Lebenslauf sind die Höhen und Tiefen der europäischen Geschichte der letzten 70 Jahre festgehalten - wie in einem Dokumentarfilm des Regisseurs Lennart Meri. In Ihrem Lebensfilm werden die große Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und die stalinistische Verfolgung, aber auch die tiefe Veränderung dokumentiert, die vor zehn Jahren begann und bis heute das Gesicht Europas verändert. Ihr Lebensweg ist auf das Engste mit der Freiheit Ihres Landes verbunden: als Außenminister und Staatspräsident haben Sie den Weg Estlands in die Unabhängigkeit entscheidend gestaltet.

Die Annäherung Ihres Landes an die Europäische Union und seine Einbindung in die transatlantischen Strukturen wäre ohne Ihren Einsatz nicht denkbar gewesen. In Ihrer Arbeit haben Sie sich, Herr Präsident, immer von der Überzeugung leiten lassen, dass nicht die Esten nach Europa zurückkehren, sondern Europa nach Estland. Ich stimme dem von ganzem Herzen zu. Das geeinte Europa wird nur erfolgreich sein, wenn wir im gemeinsamen Handeln die Energie und den Reichtum nutzen, der aus unseren Unterschieden kommt. Sie haben dafür einmal einen schönen Vergleich aus der Musik gefunden: ''Estland muss in Europa ebenso sein, wie ein ''do'' oder ein ''re'' auf einem Klavier, sonst wird man die Hymne Europas nicht spielen können.''

Estland war in seiner langen Geschichte immer eng mit Deutschland verbunden. Unsere politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen reichen viele Jahrhunderte zurück. Uns verbindet die Geschichte der Hanse und der Deutschbalten. Schon 1523 hat der protestantische Glaube in Estland Einzug gehalten, und das lübische Recht wurde in Reval erst 1874 durch das Recht des Zaren abgelöst.

Wir können und wollen aber auch nicht die dunklen Kapitel unserer Geschichte vergessen: Den Verrat des nationalsozialistischen Deutschlands an den baltischen Staaten und die Verbrechen, die von Deutschen während der Jahre der Besetzung begangen wurden. Ich stimme Ihnen, Herr Präsident, in Ihrem Urteil zu, dass man das Molotow-Ribbentrop-Abkommen und die völkerverachtende Politik, die ihm zugrunde lag, eigentlich nie vergessen darf. Es beweist Größe, wenn Sie über den Pakt andererseits sagen: ''Er muss eigentlich nicht eine Quelle des Hasses sein, er muss eine Quelle der Weisheit werden.''

Herr Präsident, Sie haben Deutschland schon früh kennen gelernt. In der Zwischenkriegszeit sind Sie nicht weit von hier am Lützowplatz in die Schule gegangen, wo Sie die Grundlagen für Ihre bewundernswerten Deutschkenntnisse gelegt haben. Ich freue mich darüber, dass Sie, Herr Präsident, während Ihres Besuches in Berlin Gelegenheit haben werden, alte Schulwege neu zu entdecken, auch wenn Ihre frühere Schule leider nicht mehr existiert.

Sie lebten damals hier, weil Ihr Vater als Diplomat in Berlin das unabhängige Estland vertrat, einen Staat, der 1918 als demokratische Republik gegründet wurde und der seit 1921 aktives Mitglied des Völkerbundes war. In der ''singenden Revolution'' und in den denkwürdigen Tagen des August 1991 hat sich der alte Traum von einem freien Estland erneut erfüllt.

Ihr Land entwickelt sich seither mit großen Schritten. Bedenkt man die Lasten der Vergangenheit und die Probleme der Gegenwart, so ist es eine bewundernswerte Leistung, wie gut der politische und wirtschaftliche Transformationsprozess in Estland vorangekommen ist.

Vor nicht einmal drei Jahren haben die Beitrittsverhandlungen zwischen Estland und der Europäischen Union begonnen. Inzwischen sind alle Verhandlungskapitel eröffnet, eine ganze Reihe von Kapiteln wurde vorläufig abgeschlossen. Mutige Schritte in der Währungspolitik haben die estnische Krone zur härtesten Währung Europas werden lassen. Für den Beitritt zur Eurozone sind gute Voraussetzungen geschaffen. Ich beglückwünsche Ihr Land zu den großen Erfolgen seiner Reformpolitik. Wir alle wissen, dass ein solcher Weg nur mit erheblichen Anstrengungen und nicht ohne schmerzhafte Einschnitte möglich ist.

Ein wichtiger Partner unserer beiden Länder ist Russland. Wirkliche Stabilität und Sicherheit wird es in Europa nur geben, wenn Russland einbezogen wird. Ich weiß, dass Russland für Estland kein einfacher Partner ist. Es ist auch eine besondere Herausforderung, wenn ein Drittel der nur anderthalb Millionen Einwohner eines Landes einer Minderheit angehören. Gerade deshalb sind die Fortschritte bemerkenswert, die Estland bei der Integration seiner russischsprachigen Bevölkerung gemacht hat.

Vor wenigen Tagen ist in Hannover die EXPO 2000 zu Ende gegangen. Die Architektur des estnischen blauen Pavillions mit seinen sich auf und ab bewegenden Fichten stand für die Schönheit Ihres Landes und für die Dynamik eines modernen Staates.

Herr Präsident, Sie haben über die Beziehungen unserer beiden Länder einmal gesagt: ''Ich glaube, Deutschland ist ebenso nah, wie es immer gewesen ist, vielleicht ein Stück näher.''

In diesem Sinne, Herr Präsident, erhebe ich mein Glas auf die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern, auf eine glückliche und friedliche Zukunft in einem geeinten Europa und auf Ihr und Ihrer Frau persönliches Wohlergehen.

 

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