Laudatio von Dr. h.c. Lennart Meri, Staatspräsident Estlands, an Herrn Dr. Roman Herzog, Bundespräsident a.D., am 19. März 2001 in der Hermann-Ehlers-Akademie Kiel
19.03.2001

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Sehr geehrte Frau Heide Simonis, Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein,
Sehr geehrter Herr Otto Bernhard, Präsident der Hermann-Ehlers-Akademie,
Sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg,
Meine Damen und Herren!

Für die Republik Estland und für seinen Präsidenten ist es eine große Ehre, hier und heute über den Teil des Lebenswerkes des deutschen Bundespräsidenten a.D., Dr. Roman Herzog zu sprechen, der in Deutschland wohl am wenigsten bekannt ist. Ich meine damit seine Beziehungen zu Estland, zum estnischen Rechtsraum, zur Erweiterung der Europäischen Union nach Mitteleuropa, in ein Gebiet also, zu dem Estland während seiner gesamten langen Geschichte gehört hat, mit Ausnahme der für Europa so schwierigen Jahre des Kalten Krieges. Ich möchte Ihnen versichern, daß ich die Bedeutung Ihrer Einladung zu würdigen weiß und Ihnen dafür von ganzem Herzen dankbar bin.

Gleichzeitig möchte ich aber betonen, daß ich nicht nur Hochachtung und Dankbarkeit, sondern auch eine aufrichtige Freude darüber empfinde. Manche von Ihnen werden sich vielleicht daran erinnern, daß ich nicht zum ersten und auch nicht zum zweiten Mal in Kiel bin. Unsere Welt ist klein, besonders für Menschen, die durch gleiche Ziele und gleiche Visionen verbunden sind. Kurz gesagt, ich habe Ihre Stadt genau vor zwanzig Jahren besucht, als meine Heimat erst nach Wegen und Möglichkeiten zur Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit gesucht hat. Es war daher eine für die damalige Zeit charakteristische nomenklaturische Delegation, der als schmückendes Beiwerk Sänger und Tänzer angeschlossen worden waren, und außerdem ein Schriftsteller, der Deutsch konnte und deshalb mitreisen durfte. Auch damals sind wir in Hamburg gelandet, und auch damals hat Kiel uns freundlich begrüßt, wenn auch ohne Schnee. Wir wurden allerdings nicht mit einer Limousine, sondern mit einem Bus abgeholt. Im Namen der Stadtverwaltung wurden wir von Christian Schönig betreut - und ich freue mich, daß ich diesen Namen heute hier in diesem Saal nennen darf - der mich gefragt hat, ob er mir irgendwie helfen kann. Es hat ihn wohl etwas überrascht, ein ''Ja'' als Antwort zu hören. Ich hatte einen sehr konkreten Wunsch. Ich sagte, ich brauche eine Taschenausgabe des deutschen Grundgesetzes, in einem Format, das in der Tasche nicht auffällt. Ich war damals zweiundfünfzig, Christian Schönig, dem ich später nie begegnet bin (aber heute angerufen habe - und das war eine Überraschung des Oberbürgermeisters), war dagegen viel jünger. Wohl deshalb konnte er vor der wunderschönen Tür des Kieler Rathauses das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland so unauffällig in meine Tasche gleiten lassen, als sei der Schmuggel von Menschenrechten und Demokratie auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs für ihn eine alltägliche Beschäftigung, vielleicht sogar Pflicht. (Ich habe das Buch heute mit.)

Herr Bundespräsident Herzog, meine Damen und Herren. Besser als Deutschland konnte Estland damals die herannahenden Umwälzungen auf unserem Kontinenten voraussehen, nicht jedoch ihre bezaubernden menschlichen Aspekte. Zehn Jahre später hatte ich die Ehre, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Herrn Dr. Roman Herzog nach Reval einzuladen, weil Estland ein neue Grundgesetz brauchte. Die Taschenausgabe genügte nicht mehr, wir brauchten auch Wissenschaftler, Richter, Politiker. Wir brauchten jemand, der verstehen konnte, wie schwer es ist, einen Staat wieder aufzubauen; wie schwer es ist, das pseudowissenschaftliche Erbe eine Zynikers wie Wyschinski abzuwerfen, das viereinhalb Jahrzehnte an der Juristischen Fakultät der Universität Dorpat die geistige Atmosphäre bestimmt hatte; wie schwer es ist, Idealvorstellungen mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Besonders anspruchsvoll war Dr. Herzog in den Fragen der Menschenrechte und ihrer Garantien im estnischen Grundgesetz, die nach den Schrecken des Totalitarismus zum unfangreichsten Kapitel unseres Grundgesetzes zusammengefaßt wurden. Er würdigte die Idee, daß in Form des Staatsgerichts eine Kontrolle über die Tätigkeit des Gesetzgebers ausgeübt wird, und empfahl pädagogisch sehr taktvoll zu überlegen, ob die Parlamentswahlen besser doch alle vier Jahre durchgeführt werden sollten statt alle drei, wie in dem Entwurf vorgesehen war. Das estnische Grundgesetz hat sich, meine Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren in allen Situationen gut bewährt, und ich kann hier vor ihnen bezeugen: Dr. Roman Herzog hat im estnischen Rechtsraum, in der estnischen Gesetzgebung eine bleibende Spur hinterlassen.

So begann die Zusammenarbeit zwischen Estland und der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Gesetzgebung, so begann die Zusammenarbeit zwischen uns beiden. Wir haben uns mehrmals getroffen, nicht nur in Estland, sondern auch in Deutschland. Ich möchte mir die Freiheit nehmen, ein längeres Zitat aus der Rede von Dr. Roman Herzog zu bringen, die er am 16. Mai 1998 aus Anlaß des 750. Jahrestages des lübischen Rechts in Reval gehalten hat: "Es ist atemberaubend zu sehen, wie umfassend und durchgreifend der Wandel seit meinem ersten Besuch Ihr Land nach vorn gebracht hat. Die Dynamik ist überall spürbar. Gerade die jungen Menschen scheinen trotz mancher Schwierigkeiten die Gelegenheiten beim Schopf zu packen, sich etwas zuzutrauen und etwas zu unternehmen - kurz: ''ja'' zu sagen zur Zukunft. Die triste Vergangenheit belastet nicht den Blick auf morgen. Ich bekenne freimütig, daβ ich mir etwas mehr von einer solchen zupackenden und unbeschwerten Haltung auch in Deutschland wünsche. Das estnische Beispiel zeigt deutlich: Nur Reformkurs ist Erfolgskurs!

Jeder Besucher Tallinns sieht auf den ersten Blick, daβ er sich in einem über Jahrhunderte gewachsenen integralen Teil unserer gemeinsamen europäischen Geschichte und Kultur befindet. Man spürt, daβ diese Stadt und dieses Land Europa nie wirklich verlassen haben, sondern daβ sie immer als Teil der geistigen Gemeinschaft unseres Kontinents präsent waren und nunmehr dabei sind, ihren legitimen Platz in Europa wieder einzunehmen.

In diesem Sinne läβt sich die politische Zielsetzung der begonnenen Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union auf den gleichen kurzen Nenner bringen, mit dem der dänische König Erich IV. Plovpenning dem damaligen Reval das Recht der Stadt Lübeck verlieh: ''Omnia iura que habent cives Lybicenses''. Wenn man diesen Satz heute liest, und ihn nicht im rechtstechnischen Sinne versteht, dann lieβe er sich mühelos auch den Beitritt Estlands zur Europäischen Union verwenden: Sie, d.h. die Bürger Tallinns und Estlands, sollen künftig alle Rechte haben, die auch die Bürger Lübecks in der Europäischen Union haben.''

Herr Dr. Herzog, meine Damen und Herren! Estland hat Ihre Vision von einem gemeinsamen Europa aufmerksam verfolgt und daraus Selbstvertrauen geschöpft. Im Jahre 1990 haben Sie die Ansicht geäußert, daß ''nur in einem Friedensvertrag für ganz Deutschland die Grenzen von 1945 endgültig festgelegt werden können.'' Diese vorausschauenden Worte, die auch kritisiert worden sind, bildeten dennoch den ersten Schritt zu einem Rapprochement zu Polen, damit auch den ersten Schritt für die Sicherung der Lage Polens im Europa nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit Ihrem Einverständnis möchte ich den Namen Polen hier als eine Metapher verstehen, mit der alle mitteleuropäischen Staaten, also auch Estland, gemeint sind. Dennoch sind diese Visionen verschwommener geworden und heute, zehn Jahre nach der Wende, gibt es immer noch keine klare Botschaft, wann denn die EU ihre Türen öffnet. In Deutschland wird die EU-Erweiterung von knapp einem Drittel der Bevölkerung unterstützt, das ist bedeutend weniger als bei der letzten Erweiterung - der Wiedervereinigung Deutschlands. Auch Sie, Herr Bundespräsident, haben sich darüber Sorgen gemacht, denn zwei Monate nach dem Besuch in Reval haben Sie in Ihrer Rede ''Die Zukunft Europas gestalten'' gesagt: ''fangen wir doch zumindest schon einmal damit an, die europäischen Entscheidungen über ihre Qualität und Bürgernähe zu legitimieren. Dafür ist es nie zu früh.'' Estland teilt Ihre Ansicht, daß Europa mehr ist als eine bloße Summe seiner nationalen Interessen. Die EU kann nur auf dem Wege der Erweiterung ihre gemeinsamen Werte bewahren und verwirklichen. Nicht mit dem Preis der Erweiterung, wie häufig gesagt wird, sondern gerade durch die Erweiterung. Eine Ausgabe von ''Deutsche Bank Research'' hat dazu vor zehn Tagen folgendes gesagt: ''Kein Land in der EU werde so sehr vor der Erschliessung neuer Märkte profitieren wie die Bundesrepublik. Die deutschen Exporte in die Beitrittsländer würden in einigen Jahren so bedeutend sein, wie die Ausfuhren in die USA.'' Deshalb ist besonders wichtig, daß die EU-Erweiterung nicht zu einem strittigen innenpolitischen Wahlthema in Deutschland oder in anderen EU-Ländern wird. Europas historische Chance darf nicht der Innenpolitik geopfert werden.

Herr Bundespräsident a.D., meine Damen und Herren! Die Einladung zur NATO ist neben der EU-Erweiterung die zweite außenpolitische Priorität für alle politischen Kräfte des estnischen Parlaments. Dieses Thema hat neulich von der US-Administration einen neuen Impuls erhalten. Zumindest interpretieren wir für uns so das von Präsidenten Bush a.D. formulierte und von seinem Sohn übergenommene Ziel ''A Europe whole and free''. Wir sind überzeugt, daß unsere Beziehungen zu Rußland dadurch einfacher und kooperativer werden, wie es nach dem Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns der Fall war. Estland hat den Eindruck, daß Rußland die Erweiterung der NATO als Tatsache schon akzeptiert hat: es gibt keine Einwände in Bezug auf Slowenien oder die Slowakei, geblieben sind sie nur im Falle von Estland, Lettland und Litauen. Es ist ein Prüfstein für den politischen Willen Europas, es ist ein Prüfstein für Demokratie als Erweiterung der Friedensstrategie. Ich weise hier, wie auch Sie es getan haben, auf die bekannten Worte von Immanuel Kant hin, nach denen Demokratien untereinander keine Kriege führen. Ich möchte nur hinzufügen, daß auch Rußland nach dem Zweiten Weltkrieg Kant als seinen Philosophen anerkannt hat.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Herzog,

ich danke Ihnen für alles, was Sie für das estnische Grundgesetz und dadurch für unser Volk und für die Menschenrechte, folglich für ganz Europa getan haben. Mein Europa liegt hoch im Norden, dort gibt es keine Berge und dort wachsen keine Weintrauben. Ihr Europa liegt zwischen den Alpen und dem Mittelgebirge, dort ist es warm und die Weintrauben können gedeihen. Uns verbindet jedoch das Streben und die Pflicht, unsere schöpferischen Kräfte zu verwirklichen und das im Gleichgewicht zu halten, was uns verbindet und was uns trennt. Und vielleicht ist gerade dieses Gleichgewicht die Seele Europas, nach dem Jacques Delors gesucht hat.

Ich danke Ihnen.