Dr. h.c. Lennart Meri Präsident der Republik Estland Anläßlich des 31. ISC Symposiums an der Universität St. Gallen 19. Mai 2001
19.05.2001

Die Rolle Der Kleinstaaten Im Europäischen Kulturraum


Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrter Herr Schmidheiny,
meine Damen und Herren!
Liebe Studentinen und Studenten

Zunächst gestatten Sie mir, Herrn Stephan Schmidheiny und der Max-Schmidheiny-Stiftung für den Freiheitspreis zu danken, der diesmal dem Staatsoberhaupt eines der kleinsten Länder Europas verliehen wurde. Alle ihre bisherigen Preisträger stellen mich in eine sehr ehrwürdige Reihe. Besonders freue ich mich über das Radio Free Europe, ihren Preisträger aus dem Jahre 1990. Mit großer Freude kann ich hier sagen, daß ich als Außenminister Estlands diese Stimme der Freiheit 1992 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen habe. In den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur brachte es durch den Eisernen Vorhang und die sowjetischen Störsender hindurch Nachrichten von einem fernen Planeten nach Estland, von einem Planeten der Freiheit. Wir lauschten seiner Stimme, wie Sie der Stimme Armstrongs vom Mond lauschten. Die Nachricht war die gleiche: es gibt Leben da draußen! Gelt, daß Estland, wie auch Lettland und Litauen, wußten es sowieso. Aber manchmal ist es wichtig, alltägliche Wahrheiten zu wiederholen. Ich bin glücklich und Ihnen, meine Damen und Herren, dankbar dafür, daß Sie mich in eine Gesellschaft eingeladen haben, mit der uns auch in schweren Jahrzehnten die gleichen Ideen verbunden haben, und noch mehr - die feste Zuversicht, daß wir diese gemeinsamen Ideale auch in unserer Heimat, in Estland, verwirklichen werden.

Herr Vorsitzender, während des gestrigen Abendessens wurde ich gefragt, wieviel Estland von Rußland abhängig ist. Meine Antwort war kurz: Estland ist weniger von Rußland abhängig als die Schweiz. Doch bin ich dankbar für diese Frage, denn sie beweist, wie wenig man Europa kennt. Erlauben sie mir, mit einigen Worten Estland vorzustellen. Meine Heimat liegt an der Ostsee. Es ist getrennt von Finnland durch den Finnischen Meerbusen, von Rußland durch den Peipussee und von Schweden durch eintausendfünfhundert Inseln, oder ungefähr 150 Kilometer. Meine Vorfahren haben vor 12 000 Jahren, nach der letzten Eiszeit, Estland und danach Finnland besiedelt und wir sind seither unserer Heimat treu geblieben. Die Völkerwanderungen haben uns nicht berührt, weshalb man die Esten und die uns sprachlich verwandten Finnen als älteste Siedler Europas bezeichnen kann. Seit dem dreizehnten Jahrhundert waren wir unter dem deutsch-römischen Kaiserreich und der dänischen Krone und haben zuhause Estnisch, in Städten Deutsch gesprochen. Die Sprache bildete eine soziale und keine ethnische Grenze. Ich bin froh hier in dieser Universität sagen zu können, daß ich aus der Universität Dorpat - auf Estnisch Tartu - stamme, die 1632 vom schwedischen König Gustav Adolf zur höheren Ausbildung von Esten und Finnen gegründet wurde. Estland ist eine akademische Republik. Die estnische Nationalflagge, Blau-Schwarz-Weiß, ist als Flagge des Estnischen Studentenverbandes geboren und schon vor unserer Unabhängigkeitserklärung 1918 als Nationalflagge in Gebrauch genommen worden. Wir haben zwei Jahre gegen den Einbruch der Roten Armee gekämpft - 1918-1920, haben den Terror, die ersten großen Massengräber und Deportationen erlebt und es doch geschafft, mit Sowjetrußland 1920 den Frieden von Dorpat zu schließen. Das Staatswappen - die drei goldenen Löwen - haben wir von der dänischen Krone, die aus Dänemark auch auf das englische Königswappen gewandert sind. Also gehört Estland zu den Staaten, die aus dem Zusammenfall der Ottomanischen, Habsburgischen, Hohenzollerschen und Romanowschen Imperien geboren sind. Es ist zwar wahr, daß der zweite Weltkrieg und unsere Widerstandsbewegung für Estland erst 1990 mit den ersten freien Wahlen zum Parlament ein Ende fanden. Doch der Staat und die Eigentumsverhältnisse wurden auf den Prinzipien der Kontinuität wiedererrichtet: Alle Vorkriegsverträge, Rechte und Pflichten wurden wieder ins Leben gerufen. Estland hat keine diplomatischen Beziehungen errichtet, sondern einfach die Beziehungen mit der Schweiz, mit den USA oder mit Deutschland, die nie die Besatzung Estlands anerkannt hatten, wiederhergestellt, was für uns sehr wichtig ist. Die Kehrseite dieses Faktums ist der unglaubliche Idealismus der Esten die verlorenen Jahrzehnte der kommunistischen Diktatur wieder gut zu machen. Heute können wir konstatieren, daß Estland erfolgreich gewesen ist. Unsere Krone ist an die deutsche Mark gekoppelt und ist stabil, denn unser Grundgesetz erlaubt uns nur einen ausgewogenen Staatshaushalt zu verabschieden. Unsere gesamte Wirtschaft ist privatisiert. Zu 80 Prozent gehen unsere Exporte in die Europäische Union; der Rest geht unter anderem nach Japan, in die Vereinigten Staaten, China und Singapur. Wir produzieren Elektronikgüter, Computer, Möbel, Chemikalien. Vor fünf Jahren starteten wir das sogenannte Tigersprungprogramm, um den Anschluß unserer Schulen, Firmen und Regierungsinstitutionen an das Internet zu beschleunigen. In dieser Hinsicht hat das heutige Estland Frankreich überholt und ist mit seiner Anzahl der Internetanschlüsse pro Kopf auf dem Niveau Deutschlands angelangt. Auch mein heutiger Vortrag ist innerhalb kurzer Zeit auf der Homepage des Präsidenten Estlands erhaltbar. In der Anzahl der Mobiltelephone sind wir unter den ersten in Europa, wir haben soeben den Eurovision-Schlagerwettbewerb gewonnen und per capita gibt es bei uns mehr Autos als in Frankreich. Wir sind der liberalen Wirtschaftsphilosophie treu geblieben und haben dadurch eine positive Atmosphäre für Investoren geschaffen. In Investitionen per capita sind führend in der Region, die heute wieder Mitteleuropa genannt wird und hinter dem eisernen Vorhang Osteuropa hieß. Estland hat sich während der letzten zehn Jahre dramatisch verändert, wobei dies am besten die sechs Millionen Touristen, die uns im letzen Jahr besuchten, illustrieren. Dies mag für die Schweiz nicht sehr viel sein, doch es ist eine beträchtliche Zahl für ein Land mit etwas mehr als einer Million Einwohnern. Estland und die Esten haben es eilig gehabt. Wieso? Denn nach Estlands Ansicht ist Europa noch nicht fertig.

Herr Vorsitzender, das Hauptthema des diesjährigen Symposiums ist ''Gleichgewicht der Kräfte'', The Balance of Power, wie Sie mir auf Englisch mitgeteilt haben, und der Titel meines Vortrages lautet ''Die Rolle der Kleinstaaten im europäischen Kulturraum''. Auf den ersten Blick könnte man denken, zwischen den beiden Themen existiert ein Widerspruch. Das Gleichgewicht der Kräfte war schon während dem Wiener Kongreß 1815 und nach Versailles ein zentrales Thema, doch bestand dieses Gleichgewicht damals nicht lange. Das durch den Hitler-Stalin-Pakt geschaffene Gleichgewicht brachte die Besatzung Polens durch die totalitären Verbündeten und die Besatzung Estlands, Lettlands und Litauens durch die Sowjetunion mit sich. Anders gesagt, es folgte der Zweite Weltkrieg mit der darauffolgenden Teilung Europas und dem Verschwinden zahlreicher Kleinstaaten hinter dem Eisernen Vorhang. Auch dies war ja ein Gleichgewicht, jedoch ein Gleichgewicht, das sich auf Angst, Wettrüsten und den Kalten Krieg stützte. Laßt uns in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, daß man am Meisten über den Weltfrieden am Vorabend des Zweiten Weltkrieges sprach. Dies ist meiner Ansicht nach die bitterste Lektion Europas, denn es wurde versucht, das Gleichgewicht der Kräfte durch Preisgabe der Prinzipien aufrechtzuerhalten. Europa sprach demokratisch und handelte imperialistisch. Denken wir an die Aufrüstung Nazi-Deutschlands, an den Anschluß Österreichs, an die Teilung der Tschechoslowakei, an die Übergabe des litauischen Memelgebiets an das Dritte Reich und an die aufrichtige Überzeugung zahlreicher Staatsmänner, daß das so erpresste Europa einer sorglosen Friedenszeit entgegengeht. Daran glaubte das kleine naive Estland, daran glaubten Finnland und Schweden, und als Chamberlain auf der Rückreise aus München in London landete, versprach er ''peace for our time''. Das lernt man in europäischen Schulen, das lernt man in der Schweiz, jedoch für uns Esten ist es keine Lektion, sondern der wichtigste Teil unserer Identität: Sicherheit ist eine teure Ware. Diese estnische Erfahrung stützt sich auf unsere demokratischen Traditionen und unsere riesigen menschlichen Verluste, die wir in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges und während des darauffolgenden sogenannten Friedens hinnehmen mußte. Daraus ergeben sich auch die heutigen Prioritäten Estlands - Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union - und das heutige Dilemma Estlands: der Beitritt zur NATO findet eine breitere Unterstützung als der Beitritt zur Europäischen Union. Ich mache mir eigentlich keine Sorgen darüber. Ich erwähne dies nur als Beispiel dafür, wie hoch Estland seine Souveränität schätzt. Estland gibt gegenwärtig 1,8 Prozent seines Staatshaushalts für Verteidigung aus und will diesen Anteil im nächsten Jahr auf zwei Prozent erhöhen. In den Zeiten der kommunistischen Diktatur, die für Estland außer den menschlichen Opfern eine intensive Russifizierung mit sich brachte, konnten wir unsere Identität am besten durch die gemeinsamen Werte verteidigen, die uns durch Jahrhunderte mit dem westeuropäischen Kulturraum verbunden haben. Auch heute ist es uns klar, daß wir nicht Mitglied der NATO werden können, ohne Mitglied der EU werden zu wollen. Zur Identität eines kleinen Volkes gehört aber noch etwas, wodurch es sich von großen Völkern unterscheidet. Das ist das Wissen um die eigene Kleinheit. Und die sich daraus ergebende unabdingbare Verpflichtung, die eigene Sprache, Kultur und Lebensweise zu schützen.

Ist das eine sentimentale Einstellung? Nein, im Gegenteil. Wenn man sich den Westen Europas ansieht, ist es eigentlich eine winzige Halbinsel am Rumpf Eurasiens, heutzutage fast ohne Bodenschätze, und dennoch ein Antriebsmotor der Technologie, eine Werkstatt neuer Ideen. Sie ist entstanden als Resultat der Verschiedenheit, der Verschiedenheit von Kulturen, Sprachen und Völker. Also wäre es sinnvoll, diese Zusammenarbeit zu fördern, das Gleichgewicht zwischen großen und kleinen Völkern aufzubewahren auch in einem vereinten Europa.

Es tut mir Leid, daß heutzutage der Wille für eine schnelle Vereinigung Europas nachgelassen hat. Ich verstehe die Notwendigkeit für eine neue institutionelle Zukunft der EU und für eine Diskussion darüber, aber das dürfte nicht zu einer Verschiebung der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten führen. Ich befürworte auch die Idee eines aus zwei Kammern bestehenden Europäischen Parlaments, dessen Unterhaus das heutige Europarlament bilden würde, in dem die Staaten proportionell vertreten sind. Im Oberhaus dagegen würden die Mitgliedstaaten mit je einer Stimme sitzen. Dieser Aufbau würde den Bürgern der großen, als auch der kleineren Mitgliedsstaaten die Sicherheit geben, daß auch auf ihre Meinung geachtet wird.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang vier Bemerkungen.

Erstens. Unsere Welt wächst nicht, aber die Zahl der Staaten wächst. Und es gibt keine Anzeichen dafür, daß diese Tendenz aufhört. Die Zahl der Kleinstaaten nimmt folglich auch in der Zukunft zu, und es wäre leichtsinnig von der Welt, vor dieser Tendenz ihre Augen zu verschließen. Die Zahl der kleinen Staaten kann nur auf Kosten der großen wachsen. In den Teilen der Welt mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung können dadurch Spannungen vermieden und neue schöpferische Potentiale befreit werden, in den nichtdemokratischen Teilen der Welt wachsen dagegen Spannungen und werden neue Krisenherde erzeugt. Das gilt vor allem für solche Regionen, wo koloniale Verhältnisse den Totalitarismus ernähren oder umgekehrt, wo totalitaristische Bedingungen koloniale Verhältnisse bewahrt haben.

Zweitens. In den fünf kleinsten Staaten der Welt leben insgesamt weniger als eine halbe Million Einwohner, etwa sechstausendmal weniger als in den fünf größten Staaten. Daraus entsteht die Frage: gibt es eine untere Grenze, eine Mindestgröße, unterhalb derer ein Staat nicht mehr als Staat funktionieren kann? Und die Umkehrung dieser Frage: gibt es auch eine Obergrenze, bei deren Überschreitung ein Großstaat nicht mehr effektiv ist?

Drittens. Gleichzeitig mit der Entstehung neuer Staaten, neuer Kleinstaaten, der wohl charakteristischsten Tendenz für das gesamte vergangene Jahrhundert, ist auch eine umgekehrte Tendenz wirksam, die wir als Globalisierung und Herausbildung von supranationalen Strukturen bezeichnen. Findet die erste Tendenz in der zweiten ihr Ende? Stellen die Kleinstaaten vielleicht nur eine embryonale Zwischenetappe dar, die nach der Geburt zu überwinden ist? Mit dieser Frage, meine Damen und Herren, sind auch die Hoffnungen und Sorgen Estlands verbunden, die wir empfinden, wenn wir den Verlauf der inneren Reformen der Europäischen Union verfolgen. Diese Frage, die heute so aktuell geworden ist, führt mich zur letzten und für mich heute wichtigsten Fragestellung, und nämlich:

Viertens. Ein kleiner Staat ist teuer. Die Kosten für verfassungsmäßige Institutionen, diplomatische Vertretungen, Landesverteidigung, Mitgliedsbeiträge in internationalen Organisationen, Rechtssystem, zahlreiche weitere Strukturen und internationale Verpflichtungen erlegen dem Steuerzahler eine viel größere Last auf als in großen Staaten. Wo liegt der Grund dafür, daß die Vertreter der kleinen Völker eine scheinbar irrationale Lösung - Souveränität als kostspieligere Daseinsweise - bevorzugen?

Meine Damen und Herren, die Antwort ist einfach. Der Mensch ist sterblich. Für den Menschen ist der Gedanke unerträglich, er könnte der letzte Vertreter seines Volkes, seiner Sprache, seiner Lebensweise, seiner Gewohnheiten und Werturteile, seiner Geschichte, all seiner Vorfahren sein. Der Mensch lebt in seiner Kultur, er wird darin geboren und er verläßt sie im Wissen, daß er durch sein Lebenswerk zu ihrer Unsterblichkeit beigetragen hat.

Der Mensch verwirklicht sich durch die Vertiefung seiner eigenen Identität und der Identität seines Staates. Noch mehr: die Standardisierung von Muttern und Bolzen, Maßen und Gewichten, Oktanzahlen oder Menschenrechten hat die Schöpferkraft des Menschen von der Routine befreit, hat ihm die Möglichkeit gegeben, kreativ wirksam zu sein, eine solche Identität herauszubilden, die für ihn selbst, für seine Kultur, seine Sprache, seinen Staat charakteristisch sind. Die Vielfalt der Denkweisen, wenn sie auf gemeinsamen demokratischen europäischen Werten beruht, ist eine Stärke, sie ist die vorantreibende Kraft Europas. Also - wenn Europa Europa bleiben will, muß es dafür sorgen, daß es die Vielfalt der europäischen Kulturen - oder anders gesagt die inneren Unterschiede Europas fördert und vertieft.

Darin wird die Mission der Kleinstaaten in Europa sichtbar. Ein kleiner Staat ist verletzlicher, folglich auch empfindlicher in bezug auf einen für unseren Kontinent fremden Hegemonismus und schneller bereit, darauf zu reagieren. Es ist die Aufgabe der kleinen Staaten, ein Barometer des europäischen Gleichgewichts zu sein. Ein Kleinstaat kann nur relativ definiert werden. Estland ist ein Kleinstaat im Vergleich zu Finnland, Finnland im Vergleich zu Schweden oder Polen, Polen dagegen im Vergleich zu Deutschland. Rußland zu China. Folglich können wir in diesem Zusammenhang nur von Tendenzen sprechen: Wenn die Entwicklung Europas auch nur in Bezug auf den kleinsten Kleinstaat paternalistisch verläuft, kann dies für das Phänomen Europa tödlich wirken. Die Kleinstaaten können lästig sein, aber sie tragen das Gleichgewicht Europas. Wenn es keine Kleinstaaten gäbe, müßte Europa sie ausdenken. Es ist ja kein Zufall, daß die Europäische Union auf eine Initiative von drei Kleinstaaten zurückgeht.

Das Phänomen Europas ist die Kunst, das Gleichgewicht zu wahren, und noch mehr - dieses Gleichgewicht in eine für Kleinstaaten günstige Richtung, im Interesse der europäischen Idee, zu verteidigen.

Das ist die härteste Nuß der inneren Reformen der Europäischen Union, die wir in Estland, wie Sie sehen, wenigstens in Worte gefaßt haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!