Staatspräsident Lennart Meri ''Das andere Mittelmeer'', Braunschweig, den 20. November 1998
20.11.1998

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

''Das andere Mittelmeer'' lautet der Titel meines Vortrages, der der Rolle Estlands in einem wiedervereinten Europa gewidmet ist. Ich möchte ihn mit einem fast lyrischen Zitat einleiten:

''Jenseits des Suionengebietes liegt noch ein anderes Meer in starrer, fast bewegungsloser Ruhe- Dort ist, und die Sage hat Recht, die Grenze der Natur. Rechts von dort schlägt das suevische Meer an das Küstenland des Aestischen Volkes. Sitte und Tracht ist suevisch, die Sprache der britannischen ähnlich- Getreide und andere Früchte bauen sie fleißiger an, als das sonst der trägen Germanen Art ist.''

Natürlich haben Sie, meine Damen und Herren, in diesem Zitat Tacitus erkannt, genauer das 45. Kapitel seiner ''Germania'', und damit wäre eigentlich schon die erste Frage beantwortet, seit wann Estland als ein integrierter Teil Europas besteht. Ich weiß, daß sich jedes Volk bei Wunsch mit einem Zitat brüsten kann, das aus der Schmuckdose der Geschichte stammt. Deshalb will ich schnell hinzufügen, daß im Unterschied zu Deutschland sowohl in der estnischen Hauptstadt Tallinn, auf Deutsch Reval, wie auch in der Universitätsstadt Tartu, auf Deutsch Dorpat, durch eine Reihe von Konferenzen der eintausendneunhundertste Jahrestag der Ersterwähnung Estlands bei Tacitus gefeiert wurde. Tacitus ist der Taufpate Estlands. Es handelt sich dabei um mehr als ein zufälliges Jubiläum. Gestatten Sie mir ein Zitat aus der Rede des finnischen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari zum feierlichen Abschluß des Tacitus-Jahres am 12. November in Reval:

''Wir vergessen die Geschichte nicht, blicken jedoch in die Zukunft. Die historischen Bande zwischen Estland und Finnland trugen ihre Früchte dann, als Estland Anstrengungen unternahm, als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union anerkannt zu werden. Damals wußten wir die Bedeutung der historischen Bande zu schätzen, die die Bürger Estlands und Finnlands durch die gesamte sowjetische Periode hindurch bewahrten.

Dank der offenen estnischen Wirtschaft sind Estland und Finnland ein einheitlicher Markt in direktem Sinne dieses Wortes geworden. Die finnischen Investitionen haben immer noch ein hohes Niveau, und gegenwärtig haben wir den Punkt erreicht, wo die Leitung von immer mehr Betrieben nur aus Esten besteht. Die Lehrzeit der Esten verläuft mit einer schwindelerregenden Geschwindigkeit.''

Der Grund, warum ich Ihr ehrenvolles Angebot angenommen habe, hier in Braunschweig einen Vortrag zu halten, ist einfach:

Ich wäre glücklich, wenn heute der Bundeskanzler Gerhard Schröder die Worte des finnischen Präsidenten Ahtisaari gebrauchen könnte. Leider ist es nicht so. Der Bundesrepublik Deutschland steht die geopolitische, wirtschaftspolitische und kulturpolitische Entdeckung Estlands noch bevor. Wenn Sie mir eine kleine Übertreibung gestatten: In diesem Sinne lebt die Bundesrepublik Deutschland noch in der Zeit vor Tacitus. Also stehe ich heute vor Ihnen, um im Jubiläumsjahr der ''Germania'' Ihnen Tacitus mit Dank zurückzubringen und zusammen mit Ihnen die Antwort auf die Frage zu suchen, warum alles so gekommen ist. Warum hat die Bundesrepublik Deutschland soviel Zurückhaltung gezeigt, wenn es darum ging, die eigenen Interessen in Nordeuropa, vor allem in Estlands, zu erkennen und die Möglichkeiten zu verwirklichen.

Daraus ergeben sich drei zentrale Fragen für den heutigen Vortrag:

Erstens: Worauf könnte sich die nördliche Dimension Deutschlands stützen?

Zweitens: Fallen die Interessen von Europa, Deutschland und Estland bei der Herausbildung der nördlichen Dimension Europas zusammen?

Drittens: Erhöht die starke Anwesenheit der Bundesrepublik in Nordeuropa die Stabilität in dieser Region, oder, und diese Meinung wird von einigen Politikern vertreten, wird die Stabilität dadurch kleiner?

II

Die Ostsee, die von den Esten als guten Schülern von Aristoteles als Westsee bezeichnet wird, ist durch Jahrhunderte hindurch der stärkste Kristallisationskern in Nordeuropa gewesen. In diesem Sinne hat sie eine ähnliche Funktion wie das Mittelmeer, und als ich noch Schriftsteller war, habe ich unser Meer als nördliches Mittelmeer bezeichnet. Die Rolle eines Mittelmeeres spielt die Ostsee auch heute, dies allerdings mit zwei Präzisierungen.

Die erste ist historischer Art: das Hinterland der Ostsee ist eine große Handelsstraße, die sie über den Ladogasee mit dem Kaspischen Meer und dem Nahen Osten verbunden hat. Von drei Straßen, die auf dem Marktplatz in Tallinn/Reval begannen, verlief die eine nach Bagdad, die andere nach Mitteleuropa und die dritte zu den atlantischen Häfen Europas, über die wir schon in der Vorzeit das fehlende Salz in den Norden brachten. Diese Verbindungswege mit ihrem Hinterland erwachen in den Zeiten der europäischen Einigung zum neuen Leben.

Die zweite Präzisierung betrifft dann auch die heutige Zeit: die Ostsee wird vor unseren Augen ein europäisches Binnenmeer.

Nach Legenden ist Reval während der Kreuzzüge des dänischen Königs Waldemars des Zweiten und des Deutschen Ordens entstanden, nach unserem heutigen Stand des Wissens war es jedoch schon lange vorher ein außergewöhnlich günstiger Hafen- und Handelsplatz im Europäischen Norden. Was das Römische Reich zu Zeiten Tacitus' nicht verwirklichen konnte, wurde zur Zeit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation verwirklicht: die estnischen Städte, vor allem Reval, wurden in die historische Hanse integriert. Die Politiker sprechen in ihrer steifen Sprache von ''gemeinsamen Werten''. Über die gemeinsamen Werte Estlands und Deutschlands muß man in der Sprache der Literatur und der Kultur sprechen, sie zeigen sich nicht nur in unserem gemeinsamen Rechtssystem, sondern vor allem in der ähnlichen Landschaft und den ähnlichen Sitten. Vor siebenhundert Jahren sind in Estland die ältesten gotischen Kirchen Nordeuropas entstanden, die die Landschaft und Lebensweise veränderten und Reval zur Hansestadt machten. Diese Vergangenheit wirkt bis heute fort, noch heute sieht man dem Stadtbild von Reval die alte Verbindung zu Lübeck an. Diese Entstehungsgeschichte, die Verwurzelung in und die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa, das - wie ich hervorheben möchte, - mehr noch ein geistiger und kultureller Raum als ein geographischer Begriff ist, sind für uns identitätsstiftend. Ohne sie gäbe es uns nicht. Ohne sie wären wir aller Wahrscheinlichkeit nach von unseren bevölkerungsreichen Nachbarn im Osten assimiliert worden, so wie es anderen Teilen der finnougrischen Bevölkerungsgruppe, der wir zugehören, ergangen ist, beispielsweise in Ingermanland, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Damit habe ich bereits den anderen Faktor angesprochen, der für uns schicksalhaft ist: unsere geographische Lage und unsere Nachbarschaft im Osten. Kulturell sind wir durch unsere enge Berührung mit Deutschen und Schweden in siebenhundert Jahren zu einem Teil Mitteleuropas geworden. Geographisch sind wir sein östlicher Vorposten geblieben. Wir liegen an einer Schnittstelle, und was das ist, zeigt Ihnen nicht nur die sogenannte große Geschichte der Staaten und Völker, sondern auch die ihrer Einwohner, die der Menschen. Mein eigener Lebensweg zeigt, was es heißt, an der Schnittstelle zwischen West- und Osteuropa zu leben.

Zugleich will ich meinem letzten Satz auch widersprechen, oder, genauer gesagt, das Wortpaar ''zwischen Ost und West'' präzisieren. Was liegt zwischen Ost und West? Geographisch kann es nur Nord oder Süd sein. Kulturgeschichtlich ist die Situation jedoch anders. An der Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Phänomenen, ob biologischen, historischen oder soziologischen, erfolgt immer der intensivste Informationsaustausch und die produktivste Synthese. Darin liegt der Reiz und der Wert der Ostsee. Beträchtlich kleiner als das südliche Mittelmeer, entsprach die Ostsee schon viel früher den menschlichen Kräften und ließ etwas entstehen, was man als gemeinsame Ostseekultur bezeichnen könnte. ''Es ist eine See, auf der man ohne Kompaß segeln kann,'' schrieb ein mittelalterlicher italienischer Kartograph verwundert quer über seine Ostseekarte. Versuchen wir, darin ein Symbol zu sehen, nicht das Fehlen eines Kompasses. An der Ostsee wurden und werden neun Sprachen gesprochen, trotzdem wirkten die Menschen im gleichen Sinne in einem einheitlichen rechtlichen Raum. Aus diesem Grunde habe ich die Hansezeit immer als eine Generalprobe für die Europäische Union betrachtet.

Das ist die Grundmauer, auf der Estland zusammen mit anderen Staaten im europäischen Norden die zur Zeit des kalten Krieges vergessene nördliche Dimension Europas wieder aufbauen will. Den Inhalt der nördlichen Dimension bildet die Grenze der Europäischen Union zu Rußland, die jedoch als Grenze, nicht als eine neue Mauer wirken muß. Auch hier bietet die Hansezeit uns ein gutes Beispiel. Von der Effektivität der Grenze hängen Sicherheit und Stabilität der Region ab, andererseits aber auch zuverlässige Verbindungswege zwischen Rußland und der Europäischen Union. Bei der Einrichtung von Grenzkontrollen ist Estland für viele mittel- und osteuropäische Staaten ein Vorbild gewesen; besonders muß hervorgehoben werden, daß der Ausbau der Grenze in einer korrekten Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation erfolgte.

In Estland schneidet sich ein wichtiger Nord-Süd-Meridian mit der Ost-West-Richtung. Hier, vor diesem Auditorium möchte ich jedoch fragen, wie beeinflußt die zentrale Lage Deutschlands in Europa sein Selbstverständnis, und das nicht nur in der traditionellen Ost-West-, sondern auch in der Nord-Süd-Dimension. Für uns ist dies eine wichtige Frage. Liegt Estland, wie auch Finnland, zu weit im Norden, um Ost oder West zu sein? Wieder einmal bildet Deutschland den Schwerpunkt Europas, von dem aus Himmelsrichtungen ihre Bedeutung erhalten: Von Deutschland hängt es ab, ob Himmelsrichtungen eine künstliche geopolitische Funktion tragen oder ob ihnen in unserem Weltbild ihre natürliche geographische Rolle zukommt. Daß die Bundesrepublik unverständlicherweise die Visafreiheit mit Estland immer noch hinauszögert, zeugt davon, daß sie über diese Fragen erst nachdenkt.

Punkt zwei: Fallen die Interessen von Europa, Deutschland und Estland bei der Herausbildung der nördlichen Dimension Europas zusammen?

Aus verschiedenen Gründen bin ich davon fest überzeugt. Ich glaube, heute können und müssen wir davon in Deutschland viel mehr sprechen als früher.

Ich habe schon erwähnt, daß uns die Geschichte ein festes Fundament hinterlassen hat: die Verwaltung in Estland war auf der Grundlage des deutschen und schwedischen Rechts tätig, das nationale Erwachen haben wir von dem deutschen ''Sturm und Drang'' entlehnt, das erste Schiller-Denkmal der Welt haben wir und nicht Sie aufgestellt und - dies bereitet mir bei der Bestimmung des Charakters der Esten ein besonderes Vergnügen - als die Nachricht von dem Versuch mit Magdeburger Halbkugeln uns erreichte, veranlaßte die protestantische Skepsis der Esten das Experiment des Herrn Göseken in Reval zu überprüfen. Als Estland von der schwedischen Königskrone unter die russische Kaiserskrone kam, konnte es seine Autonomie an der Ostsee und Verbindungen zu Europa bewahren. Als es dank seinen naturbedingten Voraussetzungen das am besten industrialisierte Teil des Kaiserreichs wurde, entwickelten sich parallel dazu die Beziehungen der estnischen Sozialdemokratie zur deutschen. Paradoxerweise beschleunigte die chauvinistische Russifizierungspolitik des Kaiserreichs und des Sowjetreichs extrem die Entstehung der nationalen Identität der Esten, die dann im Jahre 1918 in der Gründung der Republik Estland und in ihrer Verteidigung im zwei Jahre währenden schweren Krieg gegen die rote Armee ihren Ausdruck fand. Eine noch größere Rolle kam der nationalen Identität in der Zeit der sowjetischen Besatzung zu. Ich möchte besonders hervorheben, daß sie sich nicht nur auf Sprache, Lebensweise und Geistesschaffen beschränkte, sondern auch die parlamentarische Demokratie als zentrales Kristallisationskern umfaßte. Dies war ein wesentliches Merkmal, das die Esten sogar von den Dissidenten der ehemaligen Sowjetunion unterschied. Vielleicht sind Sie nun überrascht. Die Erfahrungen der Bundesrepublik mit den neuen Bundesländern sprechen wirklich eine andere Sprache. Die Erklärung ist dennoch einfach. Die Esten hatten im ehemaligen Kolonialimperium einen Vorteil: Der russische Staat entstand vor dem russischen Volk. In Estland war es umgekehrt. Hier entstand zunächst das estnische Volk und erst dann der Staat. Die staatliche Selbständigkeit und die Gründung eines eigenen Staates wurden zum Sinn der Geschichte und zum höchsten Ziel dieses kleinen Volkes. Dies bildete die Grundlage für den schnellen Aufbau des Staates im Jahre 1918 und seinen unglaublich schnellen Wiederaufbau nach dem Ende der Besatzung im Jahre 1991.

In diesem Kontext sind die außenpolitischen Prioritäten Estlands - Integration in euroatlantische Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen - für Europa noch wichtiger als für Estland selbst. Im Unterschied zu DDR-Deutschen haben die Esten die historische Erfahrung des Widerstandes gegen den Totalitarismus und gegen die Vernichtung der Identität, und sie sind darin überraschend erfolgreich gewesen. Europa verfügt nicht über diese Erfahrung. Die europäische Demokratie kann nur unter der Voraussetzung bestehen, daß sie sich unaufhörlich entwickelt und nicht unter dem Vorwand haltmacht, stehenzubleiben und zu diskutieren, wie man Demokratie vertieft. Es ist genauso unmöglich wie schwimmen zu lernen, wenn man am Ufer des Flusses steht. Demokratie bedeutet immer Risiko, das ergibt sich schon aus ihrer Definition. Nur wenn sie sich dem Risiko stellt, lernt die Demokratie, die Risiken zu überwinden. Dies gilt sowohl für die Europäische Union als auch für die NATO.

III

Und nun zu meinem dritten Punkt. Als Francis Fukuyama sein ''Ende der Geschichte'' schrieb, war die Mehrheit der Leser der Meinung, daß er damit das Ende der Politik meinte. Die reale Welt bietet uns ein komplizierteres Bild. Die Geschichte endet nicht vor dem Ende der Menschheit.

Die letzten Ereignisse in Rußland und auch anderswo beweisen, daß Politik immer noch die Wirtschaft bestimmt. Nicht nur innerhalb eines Staates, sondern auch auf der internationalen Ebene. Ich schließe daraus, daß sich sowohl Estland als auch Deutschland auf politische Probleme konzentrieren sollen. Ein Rußland in der Krise stellt eine größere Gefahr für die Stabilität Europas dar als für die Stabilität Estlands. Der möglichen Instabilität ist nur durch eine Politik der Einigung von Staaten vorzubeugen. Zugegeben, eine Möglichkeit besteht darin, sich mit defensiven Methoden zu umgeben. Ein positives Herangehen auf der politischen Ebene ist jedoch zweifellos effektiver. Ein gutes Zeichen dazu ist auch der neuliche Besuch des deutschen Bundeskanzlers in Moskau, wo er die Bereitschaft Deutschlands bestätigte, Rußland bei der Bewältigung seiner Wirtschaftskrise zu unterstützen. In diesem Zusammenhang sollte gefragt werden, welche Aussichten die postkommunistischen Staaten haben, sich in Richtung Demokratie und freie Marktwirtschaft zu bewegen? Warum ist mein Heimatland so viel erfolgreicher gewesen als manch anderes Land? Ist für manche Staaten das Mißlingen vorbestimmt? Sollten wir retten, was es noch zu retten gibt, wie einige meinen? Oder sollten wir versuchen, alles zu erreichen, was erreichbar ist, wie andere empfehlen? Und daraus folgend, wie sollten wir handeln, wie sollten wir andere berücksichtigen?

Wir haben guten Grund, über Wirtschaft zu reden. In diesem Bereich gibt es vor allem gute Neuigkeiten. Es ist natürlich wahr, daß wir beide, sowohl Deutschland als auch Estland, auf Schwierigkeiten stoßen. Es handelt sich bei diesen Schwierigkeiten jedoch um solche, die sich eher aus Erfolg als aus Mißerfolg ergeben.

Viele Bürger in Deutschland und in Estland haben in den letzten Jahren für richtig gehalten, daß nur von Schwierigkeiten geredet werden soll: nur so können wir auf sie aufmerksam machen und sie beseitigen. Es lohnt sich trotzdem, an die Grundlagen zu erinnern, auf denen unser Erfolg beruht. Die Reformen in Estland berücksichtigen sieben wichtige Aspekte:

Nach dem estnischen Grundgesetz muß das Parlament einen Haushalt verabschieden, der im Gleichgewicht ist.

Unsere Währungsreform beruht auf dem Currency-Board-Prinzip, mit der festen Anbindung der estnischen Krone an die Deutsche Mark im Verhältnis von 8 zu 1. Infolgedessen sind die Wechselkurse seit 1992 stabil, die Inflation geht ständig zurück. Im Jahre 1997 betrug die Inflationsrate in Estland 11 %.

Bei der Reform der Handelspolitik schuf Estland ein offenes und zollfreies Handelssystem, eines der liberalsten in der ganzen Welt. Estland hat gut funktionierende Freihandelsabkommen mit der EU, EFTA, Lettland, Litauen, der Ukraine, Tschechien und der Türkei. Wenn man alle Freihandelsabkommen zusammenzählt, umfaßt der freie Markt für estnische Produkte 600 Millionen Verbraucher.

Bei der Reform des Steuersystems führte Estland eine allgemeine Mehrwertssteuer und eine einheitliche Einkommenssteuer von 26 Prozent für Unternehmen und natürliche Personen ein - damit müssen viele Einwohner Estlands am Ende des Jahres überhaupt keine Steuererklärungen ausfüllen. Von Anfang an konnte die öffentliche Hand ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen, wodurch für die Esten der Anreiz entsteht, fleißig zu arbeiten und verantwortungsbewußt zu sparen.

Bei der Privatisierung großer Staatsbetriebe stützte sich Estland auf das Modell der deutschen Treuhand mit internationalen Ausschreibungen - mit dem Ziel, einen Zustrom des ausländischen Kapitals zu erreichen und neue Manager zu finden. Privatisierungsscheine (also Vouchers) wurden nicht verwendet.

Ausländer können in Estland Grund und Boden erwerben.

Es gibt keine Grenzen für die ausländische Beteiligung an Unternehmen sowie für die Repatriierung des Gewinns. 85 % der estnischen Unternehmen sind Privateigentum und mehr als zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts kommt aus dem privaten Sektor.

Für deutsche Geschäftsleute ist Estland ein Land der ungenutzen Möglichkeiten. Die estnischen Unternehmer besitzen das Know-How im Handel mit Rußland. Hier sind die Esten bis jetzt unübertrefflich. Das gute Niveau der estnischen Infrastruktur und das Arbeitsethos haben aus Reval einen der wichtigsten Häfen für die Ausfuhr des russischen Erdöls gemacht.

Reval ist eindeutig imstande, seine Position als eine der wichtigsten Handelsstädte an der Ostsee wiederherzustellen. Was die Zahl der Touristen betrifft (5 Millionen jährlich), so ist Reval schon jetzt einer der führenden Häfen an der Ostsee. Wie ich mich heute früh mit eigenen Augen überzeugen konnte, wird der Revaler Flughafen ausgebaut. Dies ermöglicht einen besseren Empfang für Passagiere, deren Zahl sich in den letzten vier Jahren verfünffacht hat. Also - es geht eine Wiederenteckung der Hanse im Norden.

Die estnische Informationstechnologie und Telekommunikationen sind in vielem besser, als in den meisten Staaten der EU. Die neue Telekommonikationen und Informationstechnologie sind dabei viel mehr als eine technische Sache. Während des eisernes Vorhanges war jede Information politisch und das ist ein Grund, warum jede Oberschule in Estland Internet-Verbindung hat. Die estnischen Arbeitnehmer sind gut ausgebildet, qualifiziert und flexibel, zugleich aber billiger als Arbeitnehmer mit vergleichbarer Qualifikation in Westeuropa. Die estnischen Erzeugnisse haben einen guten Ruf. Die zukünftige Mitgliedschaft in der EU macht Estland noch attraktiver für Investitionen.

Das estnische proportionale Steuersystem ist einfach, die Steuersätze niedrig. Eine schnelle Abwertung wird durch Gesetze ausgeschlossen. Daß das estnische Wirtschaftssystem Krisen standhalten kann, wurde auch von internationalen Rating-Agenturen bestätigt, die estnische Ratings trotz Krisen in Asien und Rußland nicht gesenkt haben. Estland ist das einzige Land unter den zu Beitrittsgesprächen eingeladenen EU-Kandidaten, das keine Übergangsperioden beansprucht.

''Made in Germany'' ist in Estland ein Synonym für Qualität. Mit dem Stand September 1998 ist Deutschland unser zweiter Importpartner mit einem Anteil von 11 Prozent. Unter den estnischen Exportpartnern ist Deutschland jedoch erst an siebenter Stelle mit einem Anteil von 5 %. Als Estland beschloß, seine Krone an die D-Mark zu binden, waren wir sicher, daß gerade Deutschland bei uns zu einem der wichtigsten Investoren wird. Leider ist der deutsche Anteil in den estnischen Außlandsinvestitionen gering und beträgt weniger als 4 %. In Estland haben vor allem kleine deutsche Unternehmen und Einzelunternehmer investiert. Unter den Großunternehmen fällt Ruhrgas als ein Eigentümer von Eesti Gaas auf.

Zusammenfassend: das andere Mittelmeer lehrt uns die Fragen zu beantworten, die für die weitere Entwicklung Europas am wichtigsten sind:

Was für ein Europa wollen wir, und wozu sind wir bereit, um dies zu erreichen?

Wollen wir ein eingehegtes, geschlossenes Europa, das zu einem großen Teil geschlossen ist gegenüber Amerika und allen unseren Partnern in anderen Himmelsrichtungen? Oder gestalten wir ein offenes Europa, daß sich in die ganze Welt ausstreckt? Wir sollten uns vor dem negativen Europatriotismus hüten, soweit es von der Tendenz zeugt, sich vor anderen Kontinenten zu schließen. Der Europatriotismus kann zum Euronationalismus führen, der einer europäischen Denkweise völlig fremd ist und ihr widerspricht.

Europa hingegen ist ein offener Begriff, ein Programm, das wir immer mit neuen Inhalten ausfüllen müssen. Und auch wir können nicht umhin, uns dieser Aufgabe zu stellen, sei es in Braunschweig oder an der Ostsee.

Europa ist an die Ostsee zurückgekommen. In ein Gebiet, das er als Folge des Hitler-Stalin-Paktes für ein halbes Jahrhundert verlassen hat. Estland, im Gegenteil, hat Europa nie verlassen.