Reden
Suchen:
 
printversion

Die Evolution des Ostseeraumes und ihre Implikationen für Deutschland
06.09.1999

Sehr geehrter Herr Vizepräsident der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland Doktor Professor Thümmel,
Sehr geehrte Damen und Herren,

In der Entwicklung des Ostseeraumes lassen sich Perioden dramatischer Fortschritte feststellen, die sich mit ruhigen Perioden einer stillen Vorwärtsbewegung abwechseln.

Lassen Sie uns für einen Augenblick etwa tausend Jahre zurückgehen. Damals bildete die östliche Handelsstraße, die unsere Region über den Ladogasee und dem Kaspische Meer mit dem Orient verband, unser Hinterland. Eine andere Handelsstraße entlang, der westlichen, sind die ersten Nachrichten über Esten in die ''Germania'' des Tacitus vorgedrungen. Diese Tatsache zeugt auch von einem Gegenverkehr von Entdeckungsreisenden und Kaufleuten. Doch ist es im hohen Norden damals bei der ruhigen Evolution geblieben. Erst das Heilige Römische Reich deutscher Nation hat die estnischen Häfen in die historische Hanse integriert.

Bekanntlich hat sich die Hanse durch geschicktes Handeln im dreizehnten Jahrhundert für längere Zeit eine dominierende Position im Ostseeraum gesichert. Ich habe oft die Hanse als eine Generalprobe der Europäischen Union betrachtet. Jedoch handelt es sich heute nicht um eine Wiederholung des Geschehenen, und das aus dreierlei Gründen.

Erstens, die geographische Weite ist zur Geschichte geworden. Moderne Kommunikationsmittel und die geänderte Natur der Mehrwertschöpfung haben Entfernungen entmachtet. Durch diese Entwicklungen, durch moderne Kommunikation und Hochtechnologieprodukte ist zum Beispiel Finnland zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht im Ostseeraum geworden und befindet sich auf dem Weg, auf globalen Märkten aktiv Mitzureden. Das ist eine Folge der Globalisierung, die sich auf Lokalisierung stützt und minunter auch Glokalisierung bezeichnet wird. Es gibt immer weniger unbedeutende Regionen - und bald wird es keine mehr geben. Wer sich global behaupten will, muß sich auch lokal behaupten, in vielen verschiedenen Regionen.

Der Ostseeraum hat unter diesen vielen Regionen eine besondere Stellung - und nicht nur für die Anrainerstaaten. Die Ostsee ist auf dem besten Weg, zum ersten Binnenmeer der Europäischen Union zu werden. Gleichzeitig hat sie sich als eine der wichtigen Wachstumsregionen der Welt erwiesen. Obwohl der wirtschaftliche Wettbewerb auf der Ostsee manchmal auch gnadenlos sein kann, drängen sich immer neue Wettbewerber in die Region. Wenn man bedenkt, daß es sich um eine Region mit einem Wachstumspotential von etwa 80% handelt, scheint dies gar nicht so abwegig.

Zweitens: es sind neue Kraftlinien entstanden. Reval hat seine Bedeutung der Hansezeit wiedergewonnen. Gemessen an der Zahl der Besucher (bis zu fünf Millionen in diesem Jahr) ist Reval schon heute einer der beliebtesten Häfen an der Ostsee. Der Flughafen wird gerade extensiv renoviert, um den Besucherstrom zu bewältigen, der sich innerhalb der letzten vier Jahren verfünffacht hat. Unsere Infotechnologie und Telekommunikationen sind schon heute die führenden in Mitteleuropa, sowohl kvalitativ wie auch kvantitativ. Als nächstes wird die Eisenbahn modernisiert. Aus historischen Gründen ist unsere Spurbreite mit der russischen kompatibel. Daraus hat sich eine einmalige Kompetenz im Bereich der Logistik ergeben. Weil sowohl die Russen als auch die westlichen Geschäftsleute wissen, daß sie sich auf estnische Häfen, estnische Banken und den estnischen Staat verlassen können, fließt ein Großteil der Ölexporte über Reval. Vertrauen ist im Transitgeschäft eine der wichtigsten Komponenten, und ich bin stolz, daß Estland das Vertrauen verdient hat. Der große Umsatz des Transitgeschäftes hat unsere Firmen vieles gelehrt. Beim Umladen der Schienentransporte auf Schiffe und umgekehrt können wir uns jederzeit zum Beispiel mit Rotterdam messen.

Und drittens: jährlich besuche ich als Schirmherr die Verleihung des Preises für den Investor des Jahres. Dieses Jahr, wie auch schon früher, bildeten die für den Hauptpreis und drei Nebenpreise Nominierten einen übersichtlichen Querschnitt der globalen Geschäftswelt. Die größten Investoren waren unsere Nachbarn Schweden und Finnland. Doch die Firmen aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien lagen nicht weit hinter ihnen. Und vier Jahre lang hat ein Unternehmen aus Singapur einen Preis gewonnen, jedes Jahr in einer anderen Kategorie. Kurzum, es ist ein günstiges Klima entstanden.

Wie hat Estland es zustande gebracht?

Trotz wechselnder Regierungen sind wir den Idealen der freien Marktwirtschaft unerschüttert verbunden geblieben. Unser System ist aufgebaut auf wirksame Regeln:

Nach dem estnischen Grundgesetz muß das Parlament einen Haushalt verabschieden, der im Gleichgewicht ist.

Unser Währungssystem beruht auf dem Currency-Board-Prinzip, mit der festen Anbindung der estnischen Krone an die Deutsche Mark im Verhältnis von 8 zu 1. Infolgedessen sind die Wechselkurse seit 1992 stabil, und die Inflation wird sich in diesem Jahr im Bereich von höchstens drei Prozent bewegen..

Bei der Reform der Handelspolitik schuf Estland ein offenes und zollfreies Handelssystem, eines der liberalsten in der Welt. Estland hat gut funktionierende Freihandelsabkommen mit der EU, der EFTA und dem vielen GUS-Ländern. In Kürze werden wir auch Mitglied der WTO sein.

Unser Steuersystem ist übersichtlich und fair. Unsere Mehrwertsteuer beträgt einheitlich 18 Prozent, und die Einkommensteuer für natürliche Personen und Unternehmen ist einheitlich 26 Prozent.

Es wird aber für die Unternehmer noch freundlicher. Die Unternehmen werden in Kürze die Befreiung von der Einkommenssteuer genießen können. Ich werde zu diesem Thema nochmals zurückkehren.

Bei der Privatisierung hat sich das deutsche Treuhandmodell bewährt. Fast 90 Prozent der Unternehmen sind heute in privaten Händen. Die Privatwirtschaft steuert ungefähr 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bei.

Es gibt in Estland keinerlei Beschränkungen für Ausländer in Unternehmensbeteiligungen, Gewinnausfuhr oder Grundbesitz.

Ich werde oft gefragt, ob Estland den ausländischen Investoren besondere Begünstigungen bietet. Sicher tun wir das. Statt Tausende Seiten mit Beschränkungen zu füllen haben wir sie leergelassen. Die einzigen, denen dieser Stand der Dinge wenig einbringt, sind die Steuerberater.

Die Berater bleiben in Estland aber auch nicht ganz ohne Brot. Mit Hilfe internationalen Beratungsfirmen wurde 1998 im Umfang von sieben Milliarden Kronen in Estland investiert. Etwa 330 investierte Dollar per capita ist eine ansehnliche Grö*e, aber wir werden uns bemühen, dieses Jahr diese Summe zu übertreffen.

Wir gedenken dies zu tun, indem wir Bedingungen herstellen, die für den Investor hoffentlich attraktiv sind. Die wichtigsten Voraussetzungen für ein angenehmes Geschäftsklima sind unser Erachtens Zuverlässigkeit, Transparenz der Regelungen und des Staatsapparates sowie eine effiziente Infrastruktur. Ich glaube, da* wir die kritische Masse an Zuverlässigkeit schon erreicht haben. Die größte Investition in Estland im vergangenen Jahr, der Kauf der Beteiligung an Hansapank, geschah zu einem Zeitpunkt, wo die meisten westlichen Investoren mit den Verlusten in Rußland beschäftigt waren. Im kriselnden Mitteleuropa schien Estland den Schweden der richtige Ort für eine Anlage. Es war ein wichtiges Vertrauensvotum - und gleichzeitlich ein gutes Geschäft für beide Seiten. Auch die Infrastruktur im engeren Sinne - Telekommunikationen, Straßen, Eisenbahnen - kann sich sehen lassen.

Die Arbeit an der Infrastruktur im weiteren Sinne wird aber weiter vorangetrieben. Wir möchten nicht nur Geld nach Estland ziehen, sondern vor allem begabte Menschen, Manager von Weltrang und mit entsprechenden Beziehungen. Auch sind wir fest entschlossen, der Transparenz im Geschäftlichen und im staatlichen Bereich weiterhin höchste Priorität einzuräumen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Im Wesentlichen ist Estland schon jetzt bereit, der Europäischen Union beizutreten. Und ich bin zuversichtlich, da* wir es in absehbarer Zukunft auch schaffen werden. Was bedeutet es für Deutschland? Es wäre sinnvoll, arbeitsintensive Produktionsprozesse rechtzeitig nach Estland zu verlagern.

Ich erlaube mir das Beispiel von Finnland zu zitieren: Zahlreiche finnische Textilfirmen haben Teile ihrer Produktion nach Estland ausgelagert. Auch Deutschland müsste bereit sein, die Atmosphäre der Kreativität und des technischen Fortschritts, die jetzt an den beiden Ufern des Finnischen Meerbusens herrschen, auszunutzen. Das letztere setzt voraus, da* deutschen Unternehmer ihre Präsenz in Estland intensiv ausbauen.

Im Zeitalter der Glokalisation braucht Estland keine Riesenfabriken. Es geht auch kleiner. Junge Leute auf der Insel Dagö schreiben Software für Microsoft. Die e-commerce-Software von Hansapank ist wahrscheinlich die beste, die es im Mitteleuropa gibt. Unsere Designer entwerfen Internet-Portale für schwedische Software-Firmen und Simulationssoftware, die europaweit für militärische Zwecke eingesetzt wird.

Und wenn ich über e-commerce spreche, muß man die Tatsache im Auge behalten, daß die bestellten Artikel meistens doch nicht über das Kabel an die Klienten fließen. Unsere geographische Stellung sammt der Infrastruktur macht Estland auch in der e-commerce-Logistik attraktiv.

Sollte Deutschland die Integration des Ostseeraumes Schweden und Finnland überlassen, würde die folgende Periode der Evolution im Ostseeraum letztlich eine zu einseitige Richtung nehmen, die nachteilig für Mitteleuropa sein könnte. Deshalb bin ich überzeugt, da* deutsche Unternehmer und Investoren die Integration des Ostseeraumes als eine ihrer Prioritäten wahrnehmen mü*ten.

Alle wichtigen Angaben und eine Unmenge von trivialen Daten über Estland sind im Datennetz zugänglich. Die estnische Botschaft und internationale Beratungsfirmen werden sicher Antworten auf alle Ihre Fragen über Investitionen in Estland haben.

Summa summarum: von Zeit zu Zeit mache ich mir Sorgen, ob sie Estland immer noch als ein postsowjetisches Land mit den typischen Risiken empfinden. Tun sie es nicht. Ich kann ihnen keinesfalls vorwerfen, daß sie Estland nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Was ich Ihnen jedoch versichern kann: Estland ist ein Rechtsstaat; das durchschnittliche Bildungsniveau der Esten ist recht hoch; den Esten ist ein protestantisches Arbeitsethos eigen, das uns verpflichtet, die in den letzten Jahrzehnten verlorene Zeit wiedergutzumachen, sowohl in der Arbeit als auch in der Demokratie. Nur dadurch ist auch verständlich, wieso wir in der Anzahl der Internetanschlüsse pro 100 Einwohner den westeuropäischen Durchschnitt übertreffen; hier vergleichen wir uns schon lange nicht mehr mit Mitteleuropa. Und wieso der estnische Präsident bis drei Uhr in der Nacht an seinem Arbeitstisch sitzt, um mindestens einen Teil der an ihn eingetroffenen Briefe persönlich zu beantworten. Auch das gehört zu der Demokratie einer kleinen durchsichtigen Staaten.

Zugleich muß ich auch betonen, was wir nicht versprechen können. Wir können keine schnellen Gewinne garantieren. Doch wir können für die Stabilität der Gewinne bürgen. Die Finnen, deren Sprache unserer Muttersprache nahe steht, haben als erste den estnischen Markt entdeckt, und diese linguistische Tatsache kann ich wiederum den Deutschen nicht vorwerfen.

Vielleicht sollte ich aber hinzufügen, daß den Deutschen, die Estland etwas aufmerksamer betrachten, kontinentaleuropäische Kulturtraditionen auffallen müßten. Sie sind von nordischen, skandinavischen Traditionen geprägt, daher haben sie ihre Eigenart, ihr Lokalkolorit vielleicht sogar besser bewahrt als anderswo in Europa. Mich als Schriftsteller hat immer diese exotische Verbindung von Modernem und Konservativem gefesselt, die Vorliebe der Esten zur modernen Technologie auf der einen und zur konservativen Lebensweise auf der anderen Seite. Die Freude am Experiment wird darin sichtbar, daß wir unsere Unternehmen vor kurzem von der Einkommenssteuer befreit haben. Die Unternehmen selbst haben wir nie besteuert, denn dann sollten wir auch den Lötkolben oder das Mikroskop besteuern. Jetzt verzichten wir auch auf die Besteuerung des Gewinns von Unternehmen in fester Überzeugung, daß dies mit Wirtschafts- und Naturgesetzen besser im Einklang steht: Wir wollen, daß unsere Unternehmen wachsen und gedeihen, mit Europa ''in gleichem Schritt und Tritt'', um mit Uhland's Wörter meine Bemerkungen zu beenden.

Meine Damen und Herren, ich danke ihnen für ihre Auferksamkeit.

 

zurück | archiv | start

Speeches Kõned Reden Erklärungen Interviews