Reden
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Präsident der Republik Estland auf der Konferenz des Bundes der Vertriebenen in Stuttgart am 5. September 1999
05.09.1999

Sehr verehrte Frau President,
sehr geehrter Bundesinnenminister,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
meine Damen und Herren,
liebe baltische Landesgenossen,

draußen außerhalb dieses Saales, vielleicht aber auch in diesen Wänden, mögen sich manche wundern, warum der Bund der Vertriebenen beschlossen hat, einem Ausländer, dazu noch einem Staatsoberhaupt, seine höchste Auszeichnung zukommen zu lassen.

Der Präsident der Republik Estland gehört nicht zu denjenigen, die sich wundern. Ich wundere mich nicht, da ich einer der Ihren bin. Zwischen 1939 und 1991 hat jeder vierte Este, darunter auch ich, seine Heimat vorübergehend oder für immer verloren. Die Esten wissen, was das bedeutet: Recht auf Heimat.

In meinem Dankeswort möchte ich auf drei Momente eingehen.

Erstens will ich Ihnen am Beispiel meiner höchst persönlichen Kindheitserinnerungen beschreiben, wie das sowjetische totalitäre Regime Vertreibungen durchgeführt hat, die im Estnischen - wenn wir es wortwörtlich übersetzen - Verschleppung genannt werden, im Englischen Deportation oder population transfer und im Russischen выceлeниe, Aussiedlung.

Zweitens, gestützt auf Werner Bergengruen und den estnischen Mommsen, Paul Johansen heißt er, versuche ich, Ihnen ein Bild von der Vielfalt Estlands zu zeichnen. Darin liegt eigentlich die Antwort auf die Frage verborgen, warum der Versuch, ''im Namen von Frieden und Stabilität'' aus meiner Heimat ein homogenes Gebiet zu machen, wo nur der russischsprachige ''homo sovieticus'' lebt, warum dieser Versuch eben zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion geführt hat.

Und drittens möchte ich Sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen, aus Jalta und Potsdam nach Kosovo und Pristina, und fragen, warum wir jetzt, an der Schwelle des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, wieder in das Jahr 1945 zurückgekehrt sind und uns um Vertriebene Sorgen machen müssen, warum wir wieder beweisen müssen, daß auch die Albaner ein Recht auf Heimat haben.

Ich beginne mit meiner Kindheit.
Unsere Familie wurde am 14. Juni 1941 deportiert. Ich erwachte in unserer kleinen Wohnung, die wir mit einer anderen Familie teilten und wo zwei Räume uns gehörten, ungewöhnlich früh. Fremde Leute sprachen im Zimmer laut. Als erstes nahm ich einen Soldaten wahr, der mit aufgepflanztem Bajonett vor dem Fenster stand. Ein weiterer Sowjetsoldat war im anderen Zimmer postiert. Ein sowjetrussischer Offizier leitete die Aktion. Auch zwei junge Burschen, die Zivilkleider trugen und estnisch sprachen, gehörten zu unseren frühmorgendlichen Besuchern. Meine Eltern hatten sich in aller Hast angezogen, es war etwa vier Uhr morgens. Die Nachbarin, eine ältere Frau, war herbeigekommen und jammerte. Wir mußten packen, und dazu gab man uns zwanzig Minuten Zeit. Mitnehmen durften wir soviel, wie wir tragen konnten. Die zwei Esten standen am Tisch und durchstöberten mit großem Interesse einige Fotoalben. Sie warfen alles, was sie fanden, in einen großen Sack, Dokumente und Familienfotos, auch die Verdienstorden meines Vaters. Dieser behielt selbst in dieser Lage seine Ruhe. Meine Mutter, bemüht, das Mögliche einzupacken, erhielt plötzlich vom russischen Offizier eine Anweisung. Ein bißchen verlegen, wie mir schien, sagte er: ''Sie müssen die Sachen Ihres Mannes in einen anderen Koffer einpacken.'' Mit einem Ruck richtete sich meine Mutter empor - sie hatte sich beim Packen gerade gebeugt -, und sie fragte: ''Um Gottes willen, warum denn?'' Der Offizier, weiterhin verlegen, gab zur Antwort: ''Sie werden zuallererst in eine Sauna gebracht.'' Die Antwort hätte absurder nicht sein können, aber mein Vater begriff zugleich, das wir getrennt werden sollten.
Vor der Wohnungstür stand ein weiterer Soldat mit aufgepflanztem Bajonett, und unten wartete ein Lastwagen. Um halb fünf am Morgen fuhr der Lastwagen mit uns ab. Es war Mitte Juni, nach der weißen Nacht ein früh heranbrechender nordischer Sommermorgen. Vor einem Lebensmittelladen im Nachbarhaus hatte sich schon eine Schlange gebildet. Die Menschenschlangen waren bei uns mit der Sowjetisierung unversehens zum Bestandteil des Straßenbildes geworden. Die Leute, die in der Schlange auf die Öffnung des Ladens warteten, folgten uns mit ihren Blicken, und ich sehe das Bild auch jetzt noch vor mir und bewahre das damalige Gefühl, das mir sagte, unser Lastwagen mit Deportierten sei nicht der erste gewesen, den diese Menschen zu sehen bekamen.

Der Hafen war von Militär umzingelt. Ein Zug stand auf dem Gleis, aus Güterwagen, an denen hoch oben unter dem Dach je zwei kleine, horizontal vergitterte Fensterluken sichtbar waren. Hinter den Gittern nahm ich Gesichter wahr. Man befahl uns roh, vom Lastwagen zu steigen. Als wir dann auf dem Boden standen, gaben die Russen meiner Mutter gleich den nächsten Befehl: ''In diese Richtung!'' Sie schickte sich schon an, der Aufforderung zu folgen, doch da ertönte die Stimme meines Vaters: ''Nimm dir ganz ruhig etwas Zeit. Wir müssen voneinander Abschied nehmen.'' Er umarmte die Mutter, den kleinen Bruder und zuletzt mich, und dann gab er mir einen freundlichen Klaps auf die Schulter und ermahnte mich: ''Jetzt bist du der älteste Mann in der Familie, also paß auf deine Mutter auf.''

Und dann gingen wir nach rechts und mein Vater nach links. Zweimal konnte ich noch meinen Vater erblicken, er, der großgewachsene Mann, schritt zwischen zwei kleinen Russen dahin. Er schaute nicht zurück.

Soweit meine Kindheitserinnerungen, wie ich sie Andreas Oplatka, einem Journalisten der ''Neuen Zürcher Zeitung'' diktiert habe und wie sie im diesen Frühjahr als Buch veröffentlicht sind. In dieser Nacht, am 14. Juni 1941, vor des Ausbruchs des Krieges in dem Ostfront, verlor jeder hundertste Bürger der Republik Estland sein Recht auf Heimat. ''Financial Times'' von vorgestern nennt mich ein Staatsoberhaupt, das die ehemalige Sowjetunion besser als alle anderen kennt. Ich will auf den Wahrheitsgehalt dieser Feststellung hier nicht eingehen und nur hinzufügen, daß mein Universitätsstudium tatsächlich damals, mit zwölf Jahren im Güterwagen im Hafen von Reval, Tallinn auf estnisch, begonnen hat. Un zum Kontrast füge ich nun eine Beschreibung des Revaler Hafens aus der Feder von Paul Johansen hinzu, vor allem für diejenigen unter uns, denen die Ostseeregion weniger bekannt ist.

Der Fremde, sagt Paul Johansen, der sich im Mittelalter zur See der alten Hansestadt Reval näherte und ihre eindrucksvolle Silhouette immer deutlicher am Horizont sich abzeichnen sah - mit den ragenden Kirchen, den mächtigen Türmen und Toren, der uneinnehmbar scheinenden Burg auf dem Domberge -, der mochte wohl meinen, eine rein deutsche Stadt vom vertrauten Ostseetypus vor sich zu haben. Auch die Gespräche mit den Revaler Mitreisenden auf dem Schiff konnten ihn in diesem Glauben nur bestärken; denn es waren Niederdeutsche, deren Verwandte und Handelspartner in Lübeck, Danzig, Stralsund und anderen Ostseestädten oder im fernen Westfalen saßen.

Im Hafen angekommen, von der Nähe gesehen und erlebt, wirkte diese Stadt aber ganz anders auf den Ankömmling und gab Anlaß zu Befremden. Schon die Mündriche, die Führer der kleinen Leichterschiffe, welche den ankernden Schiffen Waren und Reisende abnahmen, da man an die leichtgebaute Brücke nicht herankam, diese bärbeißigen Helfer der Schiffahrt bedienten sich einer fremder Sprachen. Gewiß, das Niederdeutsche war ihnen auch nicht ganz fremd: aber es klang rauh und kaum verständlich aus ihrem Munde. An der Brücke standen zwar die deutschen Freunde und winkten und riefen im vertrauten Niederdeutsch dem Gast Begrüßungsworte zu. Aber gleich daneben glich das Gewühl der Menge, der um den Lohn feilschenden Fuhr- und Karrenleute, der Packer und Aufschläger, der Träger, Aufkäufer, Makler, Fischer und Arbeiter aller Art, keineswegs dem gewohnten Bilde der westlichen Heimatstadt: nicht nur die Sprache, auch die Kleidung war anders, selbst Gesten und Benehmen. Bevor noch die vorhin so dominierenden Türme und Tore von nahem sichtbar wurden, mußte man enge, kaum gepflasterte Straßen zwischen hölzernen Häusern, Scheunen, Trankochereien, Flachspressen und fast endlos scheinenden Holzplanken passieren. Holzverkleidete Brunnen mit Hebebäumen nicht nach deutscher Manier sah man hier und da, selbst in der Stadt.

Spätestens auf dem Markt der Stadt begegnete der Fremde dem "undeutschen" Volk in seiner teils kleidsamen bunten, teils auch eintönig grauen Tracht der Weiber und Männer. Die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und mit Rohprodukten des Handels ruhte ganz in der Hand dieser Leute. Selbst die unteren Chargen der Polizei, Büttel und Marktvogt waren Esten oder allenfalls Finnlandschweden. An den Stadttoren gab es neben der deutschen auch eine undeutsche Wache. Kleinhändler, Sattler, Zinngießer, Messingschläger, Zimmerleute schienen Esten zu sein, alles bediente sich dieser Sprache auf dem Markt. Der Fremde, sofern er in Reval bleiben wollte, mußte sich sagen: die Kenntnis der ''undeutschen Sprache'' war sehr wichtig und wünschenswert. Die Bauern standen unbeteiligter Miene herum, als ginge sie das Marktgetriebe gar nichts an.

Diese Zeilen, die 1973 veröffentlicht wurden, eröffnen vor uns eine Landschaft, die den Konferenzen von Jalta und Potsdam völlig unbekannt war, und nämlich: Europa ist niemals einheitlich gewesen. Die Stärke Europas, seine bewundernswerte Kreativität ergeben sich gerade aus der Verschiedenheit von Farben, Landschaften, Sprachen und Kulturen, damit auch von verschiedenen Denkweisen. Die Versuche, im Namen von ''Frieden und Stabilität'' homogene Regionen zu schaffen, wie die damalige politische Rhetorik es genannt hat, opferte damals und opfert auch heute beides, sowohl Frieden als auch Stabilität. Das Stichwort dafür ist Kosovo. Die Geschichte des estnischen Staates, das jahrhundertelange gemeinsame Schicksal von Esten und Deutschbalten ist gerade deshalb einer wissenschaftlichen Analyse würdig, weil durch sie das Gegenteil bewiesen wird. Es ist zwar richtig, daß es in der estnischen Gesellschaft wie in jedem mittelalterlichen oder neuzeitlichen Staat Spannungen gab und daß populistische Politiker versucht haben, diese als nationale Gegensätze zwischen dem deutschsprachigen Adel, dem der größte Teil des Ackerlandes gehörte, und dem estnischsprachigen Bauerntum, das sich nach eigenem Land sehnte, darzustellen. Paul Johansen war der erste, der darauf hinwies, daß der Stand nicht durch die Sprache bestimmt wurde, sondern umgekehrt, die Sprache durch den Stand. Für den Esten bedeutete der soziale Aufstieg den Übergang in das deutschsprachige Milieu, und für den Deutschen der soziale Abstieg den Eintritt in die estnischsprachige Gesellschaft. Das gemeinsame Verdienst von Deutschen und Esten war und bleibt jedoch der Aufbau des kontinentaleuropäischen Rechtsraumes in Nordeuropa, der Estland eine auffallend starke Identität verliehen hat. Außenstehenden ist es sogar klarer gewesen als uns selbst. Der Franzose Léouzon le Duc hat in seinem Buch ''L'Estonie'' schon um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts den Gedanken geäußert, daß die Geburt eines selbständigen estnischen Staates nur eine Frage der Zeit ist. Jakob Hurt, ein Pfarrer, der durch seine Sammlungen der estnischen Folklore bekannt geworden ist, wandte sich 1906 im Artikel ''Einige Worte zum Frieden in der baltischen Heimat'' mit folgenden Worten an seine baltischen Kollegen: ''Die Verfassung des Landes ist veraltet und entspricht gar nicht mehr der Culturstufe, die erreicht worden ist; sie muß umgearbeitet und reorganisiert werden.'' Das Wort ''Verfassung'' sollte hier Esten und Deutsche gleichermaßen faszinieren. Jakob Hurt meinte dabei den Landesstaat, der staatsrechtlich zwischen Estland und dem Romanowschen Kaiserreichs eine klare Grenze zog. Zu unterschiedlichen Zeiten gehörte ja Estland zum Heiligen Römischen Reich, zu Dänemark, Schweden und weniger als zweihundert Jahre lang auch unter die Krone der Romanows, es bewahrte jedoch immer seine politische Struktur, seine Selbstverwaltung und das europäische Recht. Dies bildete die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts und für die erfolgreiche Verteidigung dieses Rechts im langen und verheerenden Freiheitskrieg gegen den aus dem Osten vordringenden Totalitarismus. Dabei wurden 110 000 Mann des kleinen Einmillionenvolkes unter der estnischen Fahne vereint, darunter auch das Baltenbataillon. Dreizehn Deutschbalten sind mit den Orden des Freiheitskrieges ausgezeichnet worden. Wodurch läßt sich eigentlich eine so starke Motivation im Kampf gegen den übermächtigen Feind erklären?

Die Antwort ist einfach: bei der Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung war den Esten die Idee eines homogenen Nationalstaates völlig fremd. Der genaue Titel unserer Unabhängigkeitserklärung lautet ''Manifest an alle Völker Estlands'' und sein erster Artikel garantiert den Bürgern aller nationalen Gruppen die gleichen Rechte. Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte waren dieser starke motivierende Faktor, der im Freiheitskrieg Esten und Deutschbalten, Russen und Juden zum gemeinsamen Kampf zusammengeschlossen hat und nach dem Friedensvertrag mit Sowjetrußland auch zur gemeinsamen Arbeit beim Aufbau des Staates. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Axel de Vries hinweisen, dessen politische Tätigkeit im Interesse der Vertriebenen in der Bundesrepublik Sie besser kennen als ich. Ich möchte daran erinnern, daß Axel de Vries sowohl Abgeordneter des estnischen Parlaments als auch des deutschen Bundestages war. Sie wissen das zweifelsohne, ich will hier jedoch einen anderen Aspekt betonen: die Republik Estland ist die gemeinsame Schöpfung aller ihrer Bürger. In der Vergangenheit wie auch heute. Und daher betrifft das estnische Grundgesetz auch alle estnischen Bürger, die nach der Besetzung Estlands durch die Rote Armee am 17. Juni 1940 aus dem Lande als Bürger der Republik Estland entkommen und verleiht ihnen alle Rechte und alle Pflichten ihrer Heimat gegenüber. Das Recht auf Selbstbestimmung kann nur einmal verwirklicht werden, und es gilt für immer.

Zum Abschluß möchte ich auf die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart zurückkommen.

Das, was wir vor kurzem im Kosovo und vor sechzig Jahren in Europa gesehen haben, ist fremd für Europa, nicht jedoch für das Romanowsche Kaiserreich und für die Sowjetunion. Das ist die Art und Weise, wie Rußland durch alle Zeiten sich seine Kolonien verschaffen hat. Der Petrograder Professor Bachruschin hat beschrieben, wie die Moskauer Regierung in den Jahren 1630 und 1637 nordrussische Dörfer verwüste, um Frauen und Kinder aufzutreiben, die nach Ostsibirien in die Kosakengarnisonen gebracht wurden. Der Weg, größtenteils zu Fuß zurückgelegt, dauerte drei Jahre, und die Kinder kamen als Erwachsene am Ziel an. Und auch der in Westeuropa so bewunderte Kaiser Alexander I. hat einen Ukas erlassen, der den Kauf und Verkauf von Frauen an Kosakengarnisonen regelte. Diese Methoden wurden von der Sowjetunion übernommen und sie bildeten die Grundlagen des GULAG-Systems. Am Vorabend des großen Terrors wurde von Zhdanow der Ausdruck ''feindliche Nationen'' kreiert. Zur Liste dieser Nationen gehörten auch Esten, Deutsche und Polen.

Warum müssen wir heute, am Ende unseres Jahrhunderts und Jahrtausends, immer noch und immer wieder das Recht des Menschen auf seine Heimat betonen, warum haben wir immer wieder von den Opfern des Hitler-Stalin-Paktes zu sprechen?

Gewalt kann nur so lange Gewalt erzeugen, bis wir den Teufelskreis von Verbitterung und Rache nicht durchbrochen haben. Ich rufe hier nicht auf, sich Asche aufs Haupt zu streuen. Oder Asche über die Geschichte zu streuen. Ich rufe auf, die Frage nach der Zukunft Europas zu stellen und sich damit auch zu fragen, was Europa ist und was es nicht ist.

Europa - das ist die Trennung der geistlichen und weltlichen Macht. Europa - das ist die Gewaltenteilung von Montesquieu. Europa ist auch die Erklärung der Menschenrechte, die vor mehr als zweihundert Jahren geboren wurde. Vertreibungen dagegen, Deportationen und Arbeitslager als Grundlage der Staatsgewalt sind Europa fremd gewesen, wenn man die zwölf blutigen Jahre der Hitler-Diktatur außer anklammert. Sie haben jedoch jahrhundertealte Traditionen in Rußland. Die Bürger der im Livländischen Krieg, es war ein Krieg im Estland im 16ten Jahrhundert, der 25 Jahren dauerte, eroberten Stadt Dorpat, der Stadt meiner Universität und auch der Universität von Boris Meissner, die Bürger der Stadt wurden nach Rußland deportiert. Katharina II. schrieb 200 Jahre später aus Kasan an Voltaire: Welch eine Vielfalt an Trachten und Sprachen herrscht in der Hauptstadt meiner asiatischen Besitzungen! Welcher Mühe bedarf es meinerseits, damit sie die gleiche Kleidung tragen und die gleiche Sprache sprechen! Ich weiß, Katharina II. war eine Deutsche, aber auch Lenin war mütterlicherseits ein Deutscher. Ich will hier von diesem Rednerpult aus jedoch nicht über Nationalitäten sprechen, sondern über den unterschiedlichen Wert des Menschen östlich und westlich der estnischen Grenze. Das ist unser Thema heute, das wird unser Thema sein auch im nächsten Jahrhundert. Kurz, ich will auf das Problem hinweisen, das in Deutschland bedauerlicherweise häufig anders gesehen wird: die gegen die Menschlichkeit gerichteten Verbrechen der Bolschewiki und Nazis hatten die gleichen Wurzeln, die nicht europäisch waren. Sie reichen zurück in das Romanow-Imperium. Darüber hat Alain Besançon schon 1974 in seinem berühmten Artikel ''Russische Vergangenheit und sowjetische Gegenwart'' geschrieben, in dem er feststellt, daß sich in der sowjetischen Politik Imperative sowohl der russischen Geschichte als auch der sowjetischen Führer widerspiegeln. Das wichtigste Verdienst von Besançon besteht meines Erachtens in der Schlußfolgerung, daß die sowjetische Führung unbewußt oder bewußt die Entscheidungen, die sich aus den russischen Traditionen ergaben, hinter marxistischen Floskeln verschleiert hat. Und so haben sowohl ihre Verbündeten, die naiven linken Intellektuellen im Westen, als auch ihre Gegner gerätselt, warum sich die sowjetische Führung gerade so verhält, wie sie es tut. Zu dieser wichtigen Schlußfolgerung gelangteaber Axel de Vries, der gebürtiger Revalenser, schon ein halbes Jahrhundert früher in seinem in Reval veröffentlichten Werk ''Rußland nach Lenins Tod''. Kurz zusammengefaßt: die deportierten Esten und die vertriebenen Deutschen sind gleichermaßen Opfer von Stalin und Hitler, von Hitler und Stalin, und es ist in meinen Augen unsittlich, diese Schuld zu relativieren. Und im Namen der Zukunft Europas müssen wir viel besser begreifen, daß die beiden Verbrecher einander bedingten, einander unterstützten und voneinander lernten, denn sie waren die einzigen, die die Motive voneinander begriffen. Sünde besitzt Anziehungskraft nur für eine andere Sünde. Es war nur eine Frage der Zeit, einander zu erkennen und sich anzunähern. Die Initiative kam von Zhdanow, der den Terminus ''Feindliche Nationen'' geprägt und ihre systematische Vernichtung begonnen hat. So wurde der Weg zum Hitler-Stalin-Pakt geebnet. Von den Polen, die in der Sowjetunion in die Listen der ''Feindlichen Nationen'' eingetragen wurden, wurde 79 Prozent erschossen, unter den Esten war dieser Prozentsatz noch höher. Eine Spitzenleistung der sowjetischen Diplomatie war die Ausnutzung der Dritten Internationale zum Abschluß des Paktes. Daraus haben wir eine grundsätzliche Schlußfolgerung zu ziehen: wir müssen unser überideologisiertes Bewertungssystem aufgeben und Menschenrechte und Demokratie gegen den Totalitarismus verteidigen, hinter welchem Namen er sich auch verbirgt. Das Böse versteht es meisterhaft, sich zu verstellen, den Kommunismus als Demokratie, die Sklaverei als Selbständigkeit darzustellen. Voller Dankbarkeit möchte ich in diesem Zusammenhang den Brief des Bundestagsabgeordneten Wolfgang von Stetten zitieren, den er am 24. August 1994, aus Anlaß des Abzugs der letzten sowjetischen Einheiten aus Estland und Deutschland, an mich gerichtet hat. Zugleich bitte ich um Entschuldigung, daß ich aus diesem Brief einen Absatz zitiere, in dem er seinerseits mich zitiert, und nämlich: ''In diesem Zusammenhang darf ich Sie zitieren ... mit Ihren Worten ... : ''man sagt, der Kommunismus ist tot, aber wer hat seine Leiche gesehen?'' '' Denken wir für einen Augenblick wieder an das Kosovo. Vor rund einer Woche besuchte mein guter Freund Richard Holbrooke die Massengräber dieses vielgeprüften Landes und sagte vor den Kameras von CNN: ''Das ist Rassismus''. Wir können dem Bösen verschiedene Namen geben. Die Toten werden dadurch nicht lebendig. Die Pflicht, den Menschen zu verteidigen, die moralischen Werte Europas zu festigen, wird uns immer begleiten.

Meine Damen und Herren, wir haben einen hohen Preis gezahlt, um zu diesen einfachen Wahrheiten zu gelangen. Unsere heutige Erfahrung ist ein Teil der Ostpolitik der Europäischen Union. Es ist ein aufrichtiger Wunsch Estlands, daß sich die Demokratie auch östlich seiner Grenzen mit Erfolg durchsetzt. Genauso aufrichtig ist unser Wunsch, die abgerissenen Fäden wieder zu knüpfen, unserer gemeinsamen Ostsee ihre alte historische Rolle wiederzugeben, diesmal aber als ein europäisches Binnenmeer, und Ihnen allen, die Sie Ihre Wurzeln in Estland haben, aufrichtig zu sagen: Von ganzem Herzen willkommen!

 

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