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Der Präsident der Republik Estland Lennart Meri Ansprache an das Schweizerisch-Estnische Wirtschaftsseminar Zürich, den 25.01.2001
25.01.2001

EU Erweiterung Und Wirtschaftswachstum Im Ostseeraum - Estland Als Beispiel


Meine sehr vereehrten Damen und Herren,

Estland als EU-Beitrittsland, Estland als Teil der dynamischen Ostseeregion; Estland als Beispiel. Sie sind heute hier, um mit estnischen Firmen Bekanntschaft zu machen und ich bin eingeladen eben weil ich der Präsident Estlands bin. Darum wäre es auch nicht sinnvoll, wenn ich mich in meiner Rede nicht mit Estland befaßen würde. Gleichzeitig aber möchte ich mich nicht auf die Fürsprache der estnischen Erzeugnisse einlassen. Ich bin überzeugt, daß unsere Exporteure dies bestens selber tun können. Vielmehr möchte ich Ihnen Estland beschreiben, oder genauer gesagt das, was die Faktoren sind, die Estland heute beeinflussen. Denn man kann Estland heute nur verstehen, wenn man das Umfeld Estlands versteht. Das Umfeld Estlands bilden die Beitrittsverhandlungen zur EU und der dynamische Ostseeraum. Estland ist ein Beispiel dessen, was möglich ist, wenn man die Fülle der Möglichkeiten, die diese zwei Faktoren zu bieten haben, maximal ausnützt.

Erlauben Sie mir deshalb, meine Damen und Herren, einen Ausschweif über die Entwicklung der Ostseeregion und den gegenwärtigen Stand der EU-Erweiterung, um dann diese Teile am Beispiel Estlands in ein Ganzes zusammenzuflechten.

Erstens die Ostsee als Wirtschafts- und Kulturraum.

Schon lange vor der Entstehung der Hanse hat sich um die Ostsee ein Wirtschaftsraum gebildet. Estland und die Esten waren integraler Teil dieses Raumes, der sich nicht nur auf Handel mit dem Orient über die russischen Flüsse beschränkte, sondern auch Esten und Dänen, Schweden und Letten miteinander verband. Estland war Handelspartner und Vermittler im Wirtschaftsraum der Ostsee. Diese Rolle hat sich mit dem Entstehen der Hanse und der damit verbundenen wirtschaftlichen Entwicklung weiterhin verstärkt. Sie wissen sicher, daß estnische Städte wie Tallinn/Reval, Tartu/Dorpat, Pärnu/Pernau und Viljandi/Fellin schon im 13.-14. Jahrhundert der Hanse angehörten. Noch heute erinnern die Türme und Giebel unserer Hauptstadt an jene Zeit. Estnische Städte wurden nach deutschem Vorbild regiert - durch Magistrate, Gilden und Zünfte. Seit 1248 ähnelt unsere Gesetzgebung der deutschen, denn gerade in diesem Jahr wird zum ersten Mal erwähnt, daß in Tallinn das lübsche Recht gilt. Unsere Bräuche, unsere Lieder, ja sogar unsere Denkweise sind Ergebnis einer Jahrtausende alten Zugehörigkeit zum nord- und mitteleuropäischen Kulturraum.

Fünfundvierzig Jahre sowjetischer Besatzung haben nichts daran geändert. Zwar hat die estnische Wirtschaft unter dem Joch der Planwirtschaft einen Großteil seiner Effizienz eingebüßt, doch hat man in den letzten zehn Jahren wieder vieles gutmachen können. Dank unserer Nachbarschaft zu Schweden und Finnland und dem daraus resultierenden kulturellen und technologischen Einfluß haben wir sogar viele westeuropäische Länder im Bereich der modernen Technologien auf- und überholen können. Die nördliche Offenheit gegenüber dem Internet und dem Gebrauch von Handys zeigt sich in der Tatsache, daß schon ein Drittel der Esten das Internet benutzt. Die Anzahl der Handys wiederum nähert sich der festen Telefonverbindungen. Mehr als 80% der Bankgeschäfte werden schon elektronisch abgewickelt und im letzten Sommer stellte die Wall Street Journal fest, daß die estnische ''Hansapank'' zu den drei technisch am besten entwickelten Banken der Welt gehört. Diese Offenheit spiegelt sich auch wieder im Index der wirtschaftlichen Freiheit der Heritage Foundation (Index of Economic Freedom). Estland nimmt dort unter 161 Ländern den 14. Platz ein, zwar noch hinter der Schweiz, aber immer noch vor z.B. Deutschland. Auch stieg Estland nach dem letzten Index der humanen Entwicklung der UNO-Entwicklungsorganisation in die erste Gruppe, d.h. in die Gruppe der hochentwickelten Länder.

Der Ostseeraum ist nicht nur ein geographischer, sondern eben auch ein geistiger und kultureller Begriff. Aber auch ein wirtschaftlicher: so werden vielleicht einige von Ihnen einen Handy in Ihrer Tasche haben der die Aufschrift ''Made in Estonia'' trägt. In Estland werden sowohl Ericsson, als auch Nokia Mobiltelephone hergestellt. Unsere Wirtschaftskultur und -struktur hat sich sehr schnell wieder der unserer nördlichen und westlichen Nachbarn angepaßt.

Doch auch unsere Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland und zu unseren zwei baltischen Nachbarn sind wiederbelebt worden. So ist der Umsatzvolumen des Hafens von Tallinn seit Mitte der neunziger Jahre ein Zweieinhalbfaches gestiegen, wobei der Transit nach und von Rußland die überwiegende Mehrheit dieses Volumens in Anspruch nimmt. Die estnische Wirtschaftspräsenz in unseren südlichen Nachbarländern ist ebenfalls bemerkenswert: so war Estland im Jahre 2000 an zweiter Stelle in der Reihenfolge von Direktinvestoren nach Lettland.

Der Ostseeraum belebt sich und Estland ist eine ideale Basis, um an dessen Wirtschaftswachstum teilzunehmen. Dies ist umso wichtiger, als Estland auch eines der ersten EU-Beitrittskandidaten ist und die Mitgliedschaft in die vorausschaubare Nähe gerückt ist. Dies ist mein zweiter Punkt.

Meine Damen und Herren, das Ziel Estlands ist, am 31. Dezember 2002 für den EU-Beitritt vorbereitet zu sein. Dieser Zeitplan ist realistisch. Die wirtschaftlichen Reformen sind fast vollendet; wie die Europäische Kommision schreibt, ist Estland eine funktionierende Marktwirtschaft. Estland ist gemäß der Kommission unter den Beitrittskandidaten an dritter Stelle. Auch wirtschaftliche Beziehungen zwischen Estland und der Europäischen Union sind immer enger geworden. In der ersten Hälfte des Jahres 2000 bildete der Warenaustausch mit der Europäischen Union 73% vom gesamten Außenhandelsvolumen Estlands.

Bei den Beitrittsverhandlungen ist Estland erfolgreich gewesen. Wir haben mehr als 16, d.h. über die Hälfte der Kapitel geschlossen. Ernste Verhandlungen stehen noch bei solchen sehr umfangreichen Kapiteln wie Landwirtschaft und Umweltschutz bevor, doch ich bin zuversichtlich, daß wir auch in diesen Fragen schnell zu Lösungen kommen werden. Die Anzahl der Übergangsperioden haben wir aber im Laufe der Verhandlungen auf ein Minimum senken können, die vor allem technische Fragen betreffen, denn wir wollen der Europäischen Union möglichst schnell und ohne Vorbehalte beitreten.

Die Perspektive des EU-Beitritts hat uns geholfen, viele Hürden zu überspringen, die vielleicht in anderen Umständen zu hoch gewesen wären. Dank den strengen Normen der Europäischen Union sowohl im Wirtschafts- wie auch im Sozialbereich haben wir viele Reformen schneller durchgeführt als wir es sonst vielleicht gemacht hätten, um für die Mitgliedschaft bereit zu sein. Somit kann ich sehr wohl sagen, daß der Erweiterungsprozeß und der politische Wille Estlands unter den ersten neuen Mitgliedern zu sein, die internen Reformen beflügelt hat.

Gleichzeitig hat die bevorstehende Mitgliedschaft Estlands ausländische Investoren angelockt. Der Runde Tisch Europäischer Industrieller hat ein ganzes Buch mit Beispielen darüber zusammengestellt, wie der Erweiterungsprozeß der Europäischen Union schon heute den jetzigen wie den zukünftigen Mitgliedsländern konkreten wirtschaftlichen Nutzen gebracht hat. Es muß besonders hervorgehoben werden, daß viele Investitionen in die Berwerberstaaten gerade mit dem Hintergedanken erfolgt sind, daß es sich um Länder handelt, die bald Mitglied des gemeinsamen Marktes sein werden. Estland gehört für ausländische Investoren zu den attraktivsten Ländern in Mitteleuropa - wir sind in dieser Hinsicht ständig unter den drei besten und lagen im Jahre 1999 in den Investitionen pro Kopf nur hinter der Tschechischen Republik zurück. Nach dem letzten Weltinvestitionsbericht bildete der kumulative Bestand der Direktinvestitionen in Estland im Jahre 1998 35,6 % des Bruttoinlandsprodukts; das ist die höchste Zahl in Mittel- und Osteuropa und zweimal höher als der Durchschnitt der EU.

Meine Damen und Herren,

Dieser Drang nach einem besseren Leben, nach einer stärkeren Wirtschaft und einer größeren Konkurenzfähigkeit ist, was Estland heute beschreibt. Wir sind eine Wirtschaft im Aufbruch, und das werden Sie auch an Hand der hier repräsentierten Firmen sehen. Estland als Beispiel zeigt Ihnen die Möglichkeiten, die die Ostseeregion und der Erweiterungsprozeß der EU als soziale und wirtschaftliche Dynamos zu bieten haben - wenn man sie zu nutzen weiß. Jetzt ist die Zeit, um mit Estland Handelsverbindungen zu schaffen, aber auch um in Estland zu investieren. Denn das Potential ist vorhanden, sowohl was die Menschen, aber auch das regionale Umfeld betrifft. Man braucht es nur zu nützen.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen viel Erfolg.

 

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