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Präsident der Republik Estland, Herr Lennart Meri, bei der Eröffnung der Ausstellung ''KGB & Stasi - Werkzeuge totalitärer Macht'' in der Estnischen Nationalbibliothek am 3. Aprill 2001
05.04.2001

Sehr geehrte Frau Bundesbeauftragte,
Sehr geehrter Herr Botschafter der Bundesrepublik Deutschland,
liebe Landsleute, liebe Gäste!

Geschichte bedeutet immer Kontakte, auch dann, wenn die Staaten keine gemeinsamen Grenzen haben. Heute ist es nicht anders. Heute hat sich im estnischen Parlament unter der Leitung von Herrn Enn Tarto ein Ausschuß versammelt, der der Frage nachgeht, wie die Archive des KGB den estnischen Behörden übergeben wurden, wieso einige ihrer Teile nicht übergeben und sogar vollständig vernichtet wurden.

Und dies hat mich an meine erste Begegnung mit unserem heutigen hohen Gast in Berlin erinnert, leider während meines Staatsbesuchs. Ich sage ''leider'' während meines Staatsbesuchs, denn während eines Staatsbesuchs ist die Zeit immer sehr knapp. Frau Birthler, ich erinnere mich an Ihre Worte darüber, wie in Deutschland gleich nach der Wende - und das deutsche Wort ''Wende'' ist ein sehr moderater Ausdruck dafür und kann nicht wortwörtlich ins Estnische übersetzt werden, weil sich dann die Bedeutung ''Staatsstreich'' ergibt - wie also nach der Wende das Schreckensregime der DDR zwar beseitigt war, nicht aber die Stasi, das wichtigste Instrument dieses Schreckensregimes. Die Stasi funktionierte in ihrem großen Haus weiter, und sie funktionierte gut - sie vernichtete ihre Archive.

Diese Geschichte wirkt wie ein Witz, ein etwas morbider Witz - sie vernichtete ihre Archive mit Papierwölfen, die aus dem Osten stammten. Die Papierwölfe aus dem Osten hatten aber eine schlechte Qualität und konnten nicht soviel Papier auf einmal vernichten. Und was machte die Stasi? Wenn ich mich richtig erinnere, schickte sie ihre Männer nach Westberlin, damit diese dort gute Papierwölfe kaufen und ihre Arbeit besser fortsetzen könnten. Das waren die Probleme, vor denen Berlin damals, kurz nach der Wende, stand.

Und wir sind hier, 11 Jahre nach der allmählichen Übernahme der Macht, erst dabei, festzustellen, was von den Archiven des KGB in Estland übriggeblieben ist und wie ihre Übergabe vor sich ging. Lassen wir dem Untersuchungsausschuß Zeit, seine Arbeit ordentlich zu tun. Ich möchte Ihnen sagen, warum wir an dieser Problematik interessiert sind: wir sind nicht gegen eine abstrakte philosophische Weltanschauung, wir arbeiten dafür, daß unser demokratischer Parlamentarismus niemals, durch keine List, wieder in eine antidemokratische Staatsordnung verwandelt werden kann. Wir müssen den Mechanismus vollständig aufdecken, der Angst erzeugt und den Bürger zu einem Untertan macht.

Wir haben das Wort im Estnischen schon fast vergessen, ich glaube jedoch, wir müßten darüber häufiger sprechen. Warum eigentlich? Ich habe das Gefühl, daß wir in den vergangenen 11 Jahren, oder, um ganz genau zu sein, seit das estnische Volk über sein Grundgesetz abgestimmt und mit dem Wiederaufbau der Republik Estland begonnen hat, sehr viel erreicht und unsere Vergangenheit allmählich hinter uns gelassen haben. Wir haben viel erreicht, weil wir alle hart gearbeitet haben. Demokratie - das ist Arbeit. Demokratie - das ist eine Atmosphäre, die jedem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich nach seinen Kräften als Bürger zu verwirklichen. Demokratie ist nicht die einfachste staatliche Ordnung, vielleicht ist sie die komplizierteste. In jedem Falle ist sie eine staatliche Ordnung, die tagtäglich auch die Zuversicht, die Sicherheit erzeugen muß, daß diese staatliche Ordnung Bestand hat.

Wir haben dieser Frage in letzter Zeit zu wendig Aufmerksamkeit gewidmet, wenn überhaupt, dann akademische Quellen veröffentlicht, und schon vor den Quellen erschienen Verallgemeinerungen - so daß man das Gefühl hat, der Este lernt zunächst schreiben und erst dann lesen.

Ich erinnere mich, daß bei einem meiner ersten Vorträge in Deutschland, als ich anschließend auf der Pressekonferenz auf die Fragen geantwortet habe - es geschah im Jahre 1990, als die große Wende in Europa für alle schon offensichtlich war -, ein Teilnehmer sagte, der Kommunismus sei tot. Ich habe darauf mit einem kurzen Satz, eigentlich mit einem Zitat, antworten können: Alle sagen, daß der Kommunismus tot sei, es hat jedoch niemand seine Leiche gesehen. Ich glaube, daß wir heute, elf Jahre später, uns dies noch einmal wiederholen müssen. Denn der Teil der Menschheit, der in einem demokratischen System lebt, ist kleiner geworden. Und der Teil der Menschheit, der immer noch in einem totalitären System lebt, ist gewachsen.

Und noch etwas ist uns klar geworden: die Demokratie setzt Arbeit voraus, Gedankenarbeit und Erinnerung. Nicht, um zu rächen, sondern um Fehler zu vermeiden, die wir früher begangen haben. Und eins sollte man nicht vergessen: Estland unterscheidet sich von den meisten europäischen Länder dadurch, daß seine historische Erfahrung sowohl die sowjetische als auch die Nazidiktatur kennt. Manchmal habe ich den Eindruck, daß die estnische Öffentlichkeit der Vergangenheit müde geworden ist, müde auch der Verbrechen, die jeder normale Mensch so weit hinter sich lassen möchte wie nur möglich. Und wir lassen sie weit hinter uns, aber dies darf nur unter einer Bedingung geschehen: wenn dieses Schlechte, dieses Böse, dieser Mechanismus, der Angst erzeugt, dabei nicht in Vergessenheit gerät. Ich bin nicht sehr sicher, daß dies nicht geschieht. Ich habe auch in Estland die Bereitschaft bemerkt, auf die Verbrechen durch die Finger zu schauen, die vor 60, 50, 40 Jahren begangen worden sind, und dies in unserem kleinen Land, in dem ein Viertel unserer Bürger getötet wurde oder gelitten hat, zu sibirischen Konzentrationslagern verdammt wurde oder als Bootsvolk am anderen Ufer der Ostsee, in demokratischen Ländern, Freiheit und Sicherheit suchen mußte.

Ich glaube, diese allgemeine Bereitschaft, die Verbrechen der Vergangenheit zu verzeihen, ist für uns und für unseren Staat gefährlich. Ich glaube, es gibt eine Reihe Anzeichen dafür, und ich möchte Ihnen hier einen Brief vorlesen, den ich vor einiger Zeit erhalten habe und der vielen unter Ihnen vielleicht auch schon bekannt ist. Der Autor des Briefes ist Matti Päts, Enkelsohn des Präsidenten der Republik Estland vor dem Zweiten Weltkrieg, und der Ausschnitt, den ich hier vorlesen möchte, lautet so:

Beim Blick auf eine Gedenktafel im Gebäude des estnischen Parlaments habe ich festgestellt, daß außer meinem Großvater Präsident Konstantin Päts und meinem Vater Viktor Päts, dort auch der Name des ersten Kommissars für innere Angelegenheiten der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik Maxim Unt steht. Der rote Agent Maxim Unt war von Andrei Danow, der die Okkupation Estlands durchführte, in der ''Regierung'' der Quislinge und in dem ''Parlament'' eingesetzt worden, und am 30. Juli 1940 hat gerade er die Deportierung unserer Familie geleitet. Für drei Personen aus unserer sechsköpfigen Familie, zwei von ihnen waren Parlamentsmitglieder, bedeutete dies den Tod. Wie konnte etwas so Ekelhaftes im 83. Jahr der Republik Estland geschehen? Wessen dreckige Hand versucht hier, die Agenten reinzuwaschen, die Estland verraten haben? Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß als einziges Kriterium für die Bewertung der Taten der Parlamentsmitglieder der feierliche Eid zu gelten hat, der im Gesetzblatt der Republik Estland 1937 abgedruckt wurde und den folgenden Wortlaut hat: ''Bei Übernahme der Pflichten eines Mitglieds des estnischen Parlaments bin ich mir dessen bewußt, daß ich in dieser Funktion die Verantwortung vor der Republik Estland und vor meinem Gewissen trage, und ich gelobe feierlich, der Republik Estland und seinem Grundgesetz treu zu bleiben und meine ganze Kraft für die Sicherung des Wohlstandes und der Zukunft der Republik Estland und des estnischen Volkes einzusetzen.''

Meine lieben Landsleute, wir haben eine wirksame Erfahrung hinter uns. Wir wissen, daß die Freiheit mit Gewehren und Panzern geraubt werden kann, und wir wissen, daß Worte und Lügen dazu sogar noch besser geeignet sind. Und gerade aus diesem Grunde müssen wir uns an die Vergangenheit erinnern, an die fernere Vergangenheit und an die nahe, um die Fehler zu vermeiden, die viele ältere Demokratien als die unsere nicht vermeiden konnten, was für Europa unvorstellbare Leiden mit sich brachte.

Die Ausstellung, die in diesem Hause jetzt eröffnet wird und für die ich der Bundesrepublik Deutschland sehr dankbar bin, gibt Ihnen einen Überblick darüber, wie die Maschinerie der Angst in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik funktionierte, die keine Republik war und in der es auch keine Demokratie und keine deutsche Kultur gab, sondern nur einen Mechanismus der totalen Gewalt. Ich wünsche mir, daß wir Zeit hätten, uns daran zu erinnern, um Fehlern vorzubeugen und sie niemals zu wiederholen. Damit die Insel der Demokratie, die Insel eines unabhängigen estnischen Staates, für unsere Kinder und Enkelkinder garantiert bleibt, heute und, wie es in der Kirche heißt, für alle Ewigkeit.

Ich danke Ihnen.

 

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