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Präsident der Republik Estland auf der 456. Schaffermahlzeit am 11. Februar 2000 in Bremen
11.02.2000

Meine sehr geehrten Herren,

als Staatsoberhaupt Estlands habe ich die Pflicht und das Recht, vor allem aber die große Freude, darüber zu sprechen, was die Hauptstadt der Republik Estland Tallinn - die einstige Freie Hansestadt Reval - und die Freie Hansestadt Bremen miteinander verbindet. Dazu gehören Zeit und Raum und noch etwas, was sich hinter dem großen Stein verbirgt, wie Sie soeben gehört haben. Es verbirgt sich in Estland, wenn man der Legende Glauben schenkt, es verbirgt sich aber auch immer noch in Bremen, wenn man die Statistik zur Hilfe nimmt.

Zunächst über die Zeit. Als der Bremer Stadtbibliothekar Johann Georg Kohl von seiner Amerika-Reise zurückkehrte, veröffentlichte er einen Artikel, in dem die Entfernungen auf eine sehr moderne Weise verschwunden waren. In Hafenstädten, wie Sie sich erinnern, hatten Entfernungen einen anderen Wert als im Binnenland. Die Entfernungen waren die Luft, die man in den Häfen atmete, von denen man lebte. Kurz gesagt, der Aufsatz Ihres Stadtbibliothekars trug den Titel ''Livland, Amerika und das neue Börsenbild in Bremen''. Und als das Gemälde des Düsseldorfer Künstlers Peter Jansen am 3. August 1872 in der neuen Bremer Börse eingeweiht wurde, versicherte der Präses der Handelskammer feierlich: ''Was wir hier versinnbildlicht sehen, geschieht noch heute: Bremer Kaufleute gründen Niederlassungen in allen Weltgegenden''.

Sowohl der Künstler Peter Jansen als auch sein Auftraggeber waren vom Dorpater Künstler Ludwig von Maydell inspiriert worden, der uns als Illustrator estnischer Märchen bekannt ist. In den Jahren 1839 und 1849 veröffentlichte er in der estnischen Hansestadt Dorpat in zwei Bänden ''Fünfzig Bilder aus der Geschichte der deutschen Ostsee-Provinzen Rußlands''. Und eines dieser Bilder stellt die Entdeckung von Estland, Lettland und Litauen durch Kaufleute dar, die auf ihrer Hansekogge unsere Küste erreicht hatten. Am Mast weht eine Flagge mit dem Schlüssel Bremens. Am Ufer findet ein lebhafter Warenaustausch statt, wie wir ihn aus den Reisebeschreibungen James Cooks oder aus ''Robinson Crusoe'', dem Lieblingsbuch meiner Kindheit, in Erinnerung haben: die Damen der Wilden sind von Spiegeln begeistert und können dieses Wunder der Zivilisation nicht genug bestaunen, die Vorliebe der Männer gehört aber eher alkoholischen Getränken. Maydell illustriert genau und humorvoll ein beliebtes Geschichtsbuch seiner Zeit, in dem wir wortwörtlich lesen können: ''So lebten die Bewohner unseres Vaterlandes in glücklicher Abgeschiedenheit von dem übrigen Europa, unbekannt, aber auch unbeneidet, und zufrieden nach väterlicher Sitte...'' Diese Rousseau'sche Idylle geisterte von Buch zu Buch, mit immer neuen Details angereichert, als hätten die Autoren die Ereignisse des 12. Jahrhunderts mit eigenen Augen erspäht. Die Idylle beflügelte die Phantasie und gebar neue Figuren. Ich würde mich nicht wundern, wenn der Tauschhandel zwischen Rotweinfässern immer noch stattfinden würde. Denn die Szene geht auf den glaubwürdigen Chronisten des 13. Jahrhunderts, Heinrich von Lettland, zurück. Durch ihn wurde seinerseits der berühmteste Geschichtschronist Estlands, Balthasar Russow aus Reval inspiriert, der sein Buch den ''ehrwürdigen, geachteten und hochgelehrten Herren, Bürgermeistern und Ratsältesten der löblichen kaiserlichen Freien Reichsstadt Bremen'' gewidmet hat.

So knüpfen sich die Bande zwischen Reval und Bremen. Es sei nebenbei gesagt, Russow konnte nicht wissen, daß Heinrich von Lettland, auf den er sich bezog, über die Entdeckungsreise der Bremer Kaufleute kein Wort geschrieben hat. Dieser Abschnitt ist der Chronik von Heinrich später hinzugedichtet worden.

Wir könnten diese Geschichte natürlich als Legende abtun, jedoch hört die Legende, wenn sie einmal geboren worden ist, auf, eine Legende zu sein. Sie wird auch freilich nicht Geschichte, kann aber als Volksdichtung, letztendlich also als Tatsache, interpretiert werden. Bremen hat bekanntlich eine führende Rolle bei der Christianisierung von Nordeuropa gespielt und dadurch wird auch das lange Leben dieser Legende erklärt. Adalbert, der Erzbischof von Bremen, hatte ja Hiltinus (Johannes) als Bischof von Birka eingesetzt, zu dessen Bistum auch die Inseln Findia und Hestia, mit den heutigen Namen Finnland und Estland, gehörten. Das bedeutete, daß es in Finnland und auch in Estland zumindest eine Kirchengemeinde gegeben haben muß. Als Adam von Bremen rund 20 Jahre früher den dänischen Hof besuchte, berichtete ihm der König stolz über den Bau einer Kirche an der Ostküste der Ostsee, wodurch wir einen Hinweis auf Estland schon aus dem Jahr 1070 haben. Das ist nicht die älteste bekannte Erwähnung: Im 45. Kapitel von ''Germania'' berichtet Tacitus über die Ostsee und die Esten und erwähnt in diesem Zusammenhang Bernstein und Ackerbau. Das amüsanteste Kapitel der abendländischen Geschichte könnte den Titel haben ''Wer hat wen entdeckt?'' Für die russische Kulturtradition ist es fast unmöglich gewesen, sich mit der Behauptung Challengers abzufinden, daß Rußland durch die Engländer entdeckt worden sei. Noch problematischer ist die Entdeckungsgeschichte der Ostsee: Ich habe die Ostsee aus verschiedenen Gründen als das Mittelmeer des Nordens bezeichnet, zum Teil auch deshalb, weil sie schon seit Anbeginn der Zeiten da war - was ja verständlich ist -, aber auch deshalb, weil sie immer aktiv befahren und bewirtschaftet worden ist, wodurch ihre Entdeckung in Frage gestellt wird. Die reichen arabischen Münzfunde an der Küste, insbesondere in der Nähe der Hafenstädte, scheinen das großartige Bild der ältesten russischen Chronik von einer Wasserstraße zu bestätigen, die um Europa herum sehr genau die Linie verfolgte, die für die Griechen die äußerste Grenze Europas darstellte; ich denke dabei natürlich an den Finnischen Meerbusen, den Ladogasee, den Ilmensee und den Dnjepr mit dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer. Ich müßte hier auch die Frühstädte erwähnen, Schleswig vor allem, dann Aldjeiuborg am Ladogasee, wo die Newa ihren Ursprung hat, und selbstverständlich aber auch Nowgorod, die alle drei durch einen gemeinsamen Zug charakterisiert werden: alle drei waren Städte mit unterschiedlichen ethnischen Komponenten, deren Existenz auf einer Bedingung zu verstehen ist: sie fußten auf einer stabilen und wirksamen rechtlichen Grundlage. So erhält die Rolle Bremens in der Entdeckungsgeschichte der Ostsee ganz neue Akzente: Wenn die alten Kontakte Bremens mit der Ostsee vor allem die christliche Mission und erst dann und bedeutend weniger den Seehandel zum Inhalt hatten, - können wir daraus dann nicht schlußfolgern, daß der Handelswettbewerb an der Ostsee schon vor der Hanse recht stark war? Und gab dieser Wettbewerb nicht den Impuls zur Entstehung der mittelalterlichen Hanse und zur schwungvollen Entwicklung meiner Heimatstadt Reval? Wie sie sehen, meide ich die Behauptung, Reval, Riga oder Dorpat seien durch Kaufleute der Hanse gegründet worden. Die Siedlungsgeschichte Europas ist im ersten Jahrtausend dermaßen intensiv gewesen, daß solche Stätten schwer zu finden sind, die im zweiten Jahrtausend durch einen politischen Willensakt gegründet und besiedelt sein könnten. Auch St. Petersburg wurde von Peter dem Ersten nicht an einem leeren Ort gegründet, sondern an der Stelle einer alten schwedischen Stadt. Daß einige Frühstädte das Stadtrecht erhalten haben, andere dagegen nicht, ist eine andere Sache. Also sehe ich die Gründung einer Stadt nicht als ein romantisches Bild des Künstlers Maydell, sondern als einen rechtlichen Akt: die Hanse schuf einen einheitlichen rechtlichen Raum, der mehr als hundert Städte vereinigte und auch Estland in den europäischen Rechtsraum integrierte. In Bremen gerate ich selbstverständlich in Versuchung, auf die Vorzüge der Ostsee einzugehen: historisch gesehen sind ost-westliche Kontakte stärker gewesen. Die Dimension, die wir Breitengrade nennen, wurde von arabischen Geographen als Klimate bezeichnet. Die ost-westlichen Kontakte haben die eigene Klimazone nicht verlassen. Die Ostsee mit ihrer Nord-Süd-Ausdehnung und den Ausmaßen, die den Möglichkeiten von primitiven Segelschiffen entsprach, bot ideale Voraussetzungen für meridionale Reisen, anders gesagt, für Bewegung durch verschiedene Klimazonen, durch unterschiedliche Kulturen und Naturressourcen. Meridionale Kraftlinien enthalten mehr Spannung und sind produktiver.

Und so wurde die Hauptstadt der zukünftigen Republik Estland - Reval - eine Hansestadt, die an der Ostsee das nördlichste, für das frühmittelalterliche Dänemark das östlichste Handelszentrum war. Sie lag an einer See, über die eine der ältesten italienischen Karten behauptet, hier werde ohne Kompaß gesegelt. Auch das muß im richtigen Kontext gesehen werden: ohne Kompaß kann nur dann gesegelt werden, wenn die örtlichen Schiffahrtstraditionen in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Jetzt müssen wir wiederholen, was wir schon einmal gesagt haben. Die alte Hanse war vor allem ein einheitlicher Rechts- und Kulturraum, verbunden durch gleiche Werte, ähnlich wie heute die Europäische Union. Die EU ist jedoch keine Wiederholung der Geschichte, und das aus drei Gründen.

Erstens, die geographische Weite ist zur Vergangenheit geworden. Moderne Kommunikationsmittel und die geänderte Natur der Mehrwertschöpfung haben Entfernungen entmachtet. Durch diese Entwicklungen, durch moderne Kommunikation und Hochtechnologieprodukte ist zum Beispiel Finnland zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht im Ostseeraum geworden und redet auf globalen Märkten aktiv mit. Das ist eine Folge der Globalisierung, die sich auf Lokalisierung stützt und mitunter auch als Glokalisierung bezeichnet wird. Es gibt immer weniger unbedeutende Regionen - und bald wird es keine mehr geben. Wer sich global behaupten will, muß sich auch lokal behaupten, in vielen verschiedenen Regionen, auch im Ostseeraum, denn die Ostsee ist dabei, zum ersten Binnenmeer der Europäischen Union zu werden. Gleichzeitig hat sie sich als eine der wichtigen Wachstumsregionen der Welt erwiesen. Obwohl der wirtschaftliche Wettbewerb auf der Ostsee manchmal auch gnadenlos sein kann, drängen sich immer neue Wettbewerber in die Region. Wenn man bedenkt, daß es sich um eine Region mit einem Wachstumspotential von etwa 80% handelt, scheint dies gar nicht so abwegig.

Zweitens: es sind neue Kraftlinien entstanden. Reval hat seine Bedeutung der Hansezeit wiedergewonnen. Gemessen an der Zahl der Besucher (bis zu fünf Millionen in diesem Jahr) ist Reval schon heute einer der beliebtesten Häfen an der Ostsee. Der renovierte Flughafen ist im Stande, den Besucherstrom zu bewältigen, der sich innerhalb der letzten vier Jahren verfünffacht hat. Unsere Infotechnologie und Telekommunikationen sind schon heute unter den führenden in Europa, sowohl qualitativ wie auch quantitativ. Hier möchte ich Sie gern auf einen Artikel aufmerksam machen, der in der gestrigen ''Financial Times'' erschienen ist: der Prozentsatz der Internetkontaktierungen im letzten Vierteljahr im Vergleich zu der Bevölkerungszahl, illustriert mit einer Karte. Eine düstere Karte: alles, was ostwärts Schwedens oder Griechenlands liegt, ist einfach grau, fast wie zu den Zeiten der Aufsegelung der Ostseeländer. Schweden steht an der Spitze, Griechenland am Ende, England irgendwo in der Mitte, Estland gibt es nicht, - vielleicht weil es eben vor Frankreich, vor Italien, vor Portugal, vor Irland, vor Spanien und selbstverständlich vor Griechenland stehen müßte?! Mit ihrer Kontaktquote von 21%, was genau der westeuropäischen Durchschnittsquote entspricht. Ja, meine Herren, die Welt hat sich verändert, sie ist zusammengeschrumpft, aber nicht von selbst: es gibt Gegende, wo man mit der Zeit Wette rennt, wo die Politiker sich nicht mit der Politik, sondern mit der Technologie beschäftigen. Als nächstes wird die Eisenbahn modernisiert. Aus historischen Gründen ist unsere Spurbreite mit der russischen kompatibel. Daraus hat sich eine einmalige Kompetenz im Bereich der Logistik ergeben. Weil sowohl die Russen als auch die westlichen Geschäftsleute wissen, daß sie sich auf estnische Häfen, estnische Banken und den estnischen Staat verlassen können, fließt ein Großteil der Ölexporte über Estland. Vertrauen ist im Transitgeschäft eine der wichtigsten Komponenten, und ich bin stolz, daß Estland das Vertrauen verdient hat. Der große Umsatz des Transitgeschäftes hat unsere Firmen vieles gelehrt. Beim Umladen der Schienentransporte auf Schiffe und umgekehrt können wir uns jederzeit mit führenden Europäischen Häfen messen. Der Anteil des Transportumsatzes der Estnischen und vor allem Revaler Häfen unter den Häfen der Ostsee im vorigen Jahr war 15%.

Und drittens: jährlich besuche ich als Schirmherr die Verleihung des Preises für den Investor des Jahres. Die größten Investoren waren unsere Nachbarn Schweden und Finnland. Doch die Firmen aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien lagen nicht weit hinter ihnen. Und vier Jahre lang hat ein Unternehmen aus Singapur einen Preis gewonnen, jedes Jahr in einer anderen Kategorie. Kurzum, es ist ein günstiges Klima entstanden.

Wie hat Estland es zustande gebracht?

Nach der Wiederherstellung unserer Selbstständigkeit, also nachdem wir uns von der sowjetischer Besatzung in 1991 befreit haben, haben binnen neun Jahre sechs Regierungen gewechselt, aber nicht unsere politische Ziele: den Idealen der freien Marktwirtschaft sind wir unerschüttert verbunden geblieben. Unser System ist aufgebaut auf wirksamen Regeln:

Nach dem estnischen Grundgesetz muß das Parlament einen Haushalt verabschieden, der im Gleichgewicht ist.

Unser Währungssystem beruht auf dem Currency-Board-Prinzip, mit der festen Anbindung der estnischen Krone an die Deutsche Mark im Verhältnis von 8 zu 1. Infolgedessen sind die Wechselkurse seit 1992 stabil, und die Inflation wird sich in diesem Jahr unter drei Prozent bewegen.

Bei der Reform der Handelspolitik schuf Estland ein offenes und zollfreies Handelssystem, eines der liberalsten in der Welt. Estland hat gut funktionierende Freihandelsabkommen mit der EU, der EFTA und vielen GUS-Ländern. Estland ist auch Mitglied der WTO.

Unser Steuersystem ist übersichtlich und fair. Unsere Mehrwertsteuer beträgt einheitlich 18 Prozent, und die Einkommensteuer ist einheitlich 26 Prozent. Bei der Privatisierung hat sich das deutsche Treuhandmodell bewährt. Fast 90 Prozent der Unternehmen sind heute in privaten Händen. Die Privatwirtschaft steuert ungefähr 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bei.

Es gibt in Estland keinerlei Beschränkungen für Ausländer in Unternehmensbeteiligungen, Gewinnausfuhr oder Grundbesitz.

Ich werde oft gefragt, ob Estland den ausländischen Investoren besondere Begünstigungen bietet. Sicher tun wir das. Statt tausende Seiten mit Beschränkungen zu füllen, haben wir sie leergelassen. Die einzigen, denen dieser Stand der Dinge wenig einbringt, sind die Steuerberater.

Die Berater bleiben in Estland aber auch nicht ganz ohne Brot. Mit Hilfe internationaler Beratungsfirmen wurde 1998 im Umfang von sieben Milliarden Kronen in Estland investiert. Etwa 330 investierte Dollar per capita ist eine ansehnliche Größe, aber wir werden uns bemühen, dieses Jahr diese Summe zu übertreffen.

Die größte Investition in Estland, der Kauf der Beteiligung an Hansapank, geschah zu einem Zeitpunkt, wo die meisten westlichen Investoren mit den Verlusten in Rußland beschäftigt waren. Im kriselnden Mitteleuropa schien Estland den Schweden der richtige Ort für eine Anlage. Es war ein wichtiges Vertrauensvotum - und gleichzeitlich ein gutes Geschäft für beide Seiten.

Sehr geehrte Herren,

im Wesentlichen ist Estland schon jetzt bereit, der Europäischen Union und der NATO beizutreten. Und ich bin zuversichtlich, daß wir es in absehbarer Zukunft auch schaffen werden. Was bedeutet es für Deutschland?

Ich erlaube mir das Beispiel von Finnland zu zitieren: Zahlreiche finnische Textilfirmen haben Teile ihrer Produktion nach Estland ausgelagert. Auch Deutschland müßte bereit sein, die Atmosphäre der Kreativität und des technischen Fortschritts, die jetzt an den beiden Ufern des Finnischen Meerbusens herrschen, auszunutzen. Das letztere setzt voraus, daß deutschen Unternehmer ihre Präsenz in Estland intensiv ausbauen.

Im Zeitalter der Glokalisation braucht Estland keine Riesenfabriken. Es geht auch kleiner. Junge Leute auf der Insel Dagö schreiben Software für Microsoft. Die Internetbank der Hansapank ist die beste, die es in Mitteleuropa gibt und höchstwahrscheinlich eine der besten in Europa. Unsere Designer entwerfen Internet-Portale für schwedische Software-Firmen und Simulationssoftware, die europaweit für militärische Zwecke eingesetzt sind.

Alle wichtigen Angaben und eine Unmenge von trivialen Daten über Estland sind im Datennetz zugänglich. Die estnische Botschaft und internationale Beratungsfirmen werden sicher Antworten auf alle Ihre Fragen über Investitionen in Estland haben.

Vielleicht sollte ich aber hinzufügen, daß den Deutschen, die Estland etwas aufmerksamer betrachten, kontinentaleuropäische Kulturtraditionen auffallen müßten. Sie sind von nordischen, skandinavischen Traditionen geprägt, daher haben sie ihre Eigenart, ihr Lokalkolorit vielleicht sogar besser bewahrt als anderswo in Europa. Mich hat immer diese exotische Verbindung von Modernem und Konservativem gefesselt, die Vorliebe der Esten zur modernen Technologie auf der einen und zur konservativen Lebensweise auf der anderen Seite. Die Freude am Experiment wird darin sichtbar, daß wir unsere Unternehmen vor kurzem von der Einkommenssteuer befreit haben. Die Unternehmen selbst haben wir nie besteuert, denn dann sollten wir auch den Lötkolben oder das Mikroskop besteuern. Jetzt haben wir auch auf die Besteuerung des Gewinns von Unternehmen verzichtet, in fester Überzeugung, daß dies mit Wirtschafts- und Naturgesetzen besser im Einklang steht. Kurzum: Estland liegt nicht mehr verborgen hinter dem großen Stein, - wenn ich mir erlauben darf, an die Rede des ersten Schaffers Herrn Hans-Christian Specht zu erinnern. Es tut mir leid, feststellen zu müssen, daß wir hinter dem großen Stein die Bundesrepublik entdecken werden, die mit ihren Investitionen leider nicht in das erste Dutzend unserer Partnerländer gehört. Es lohnt sich für Bremen, Estland noch ein zweites Mal zu entdecken!

Sehr geehrte Herren,

ich versprach, darüber zu berichten, was unsere Hansestädte verbindet. Der Stadtbibliothekar hatte guten Grund, Livland und Amerika gemeinsam zu nennen: Die Entdeckung der Neuen Welt drängte alte Handelswege in den Hintergrund und schwächte die historische Hanse. Die Welt ist schon immer global gewesen, nur ist sie heute ein bißchen schneller geworden. So oder so, die Entdeckung Amerikas brachte Europa aus dem Gleichgewicht, was wiederum den langen und zermürbenden Russisch-Livländischen Krieg zur Folge hatte. Doch Reval, dieser nordeuropäische Stadtstaat, hielt den schwersten Prüfungen stand und rettete damit Estland, vielleicht sogar mehr als nur das; dieser Meinung war jedenfalls Kaiser Maximilian II, als er dem Rat von Reval seinen Dank und seine Glückwünsche aussprach. Und ihm schlossen sich viele Herrscher Europas an. Politik ist die Kunst, Gleichgewichte zu schaffen. Das bekamen wir schmerzhaft am eigenen Leib zu spüren, als die Republik Estland infolge des Hitler-Stalin-Paktes für lange Jahrzehnte vom totalitären Nachbarn besetzt wurde. Der eiserne Vorhang teilte Europa meridional in zwei Hälften. Doch noch barbarischer zerstückelte er die Geschichte Europas, vergrub unsere Vergangenheit und ersetzte sie durch eine erdichtete Geschichte. In diesen opferreichen Jahren erhielten wir wieder Unterstützung aus Bremen: In der nächsten Woche feiern wir den 80. Geburtstag von Jaan Kross, eines estnischen Schriftstellers, den die Chronik von Balthasar Russow - gewidmet dem Rat von Bremen - zum Schreiben anregte. Seine Feder machte die Chronik von Russow wieder lebendig, mit ihrem Autor, mit den Beziehungen zwischen Reval und Bremen, mit den frei segelnden Schiffen, mit all diesen gemeinsamen Werten Europas, für deren Erhaltung Estland mehr als einmal standhaft blieb und für die wir auch in Zukunft stehen müssen.

Ich danke Ihnen im Namen aller Gäste, die heute die Ehre haben hier, bei diesem traditsionsreichen Essen, anwesend sein zu dürfen.

 

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