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Präsident der Republik Estland anläßlich der Verleihung des Preises der Kleinstaaten im Herbert-Batliner-Institut in Salzburg am 23. Juli 2000
23.07.2000

Sehr geehrte
Herr Bundespräsident Dr. Klestil,
Eure Durchlaucht Fürst Hans Adam von und zu Liechtenstein,
Herr Senator DDr. Batliner,
Herr Landeshauptmann Dr. Schausberger,
Herr Vizekanzler a.D. Dr. Busek,
Mitglieder der Landesregierung,
Herr Bürgermeister der Landeshauptstadt,
Meine Damen und Herren!

Zunächst möchte ich dem DDr.-Herbert-Baltiner-Europainstitut für seine bisherige Tätigkeit danken, vor allem aber für den Beschluß, einen Preis der Kleinstaaten des Europa-Instituts zu stiften. Ich kann Ihnen versichern, hochverehrter Herr Senator Batliner, meine Damen und Herren, die Sie hier bei diesem Festakt anwesend sind, daß ich den Beschluß, den ersten Kleinstaatenpreis an das Staatsoberhaupt Estlands zu verleihen, zu würdigen weiß. Es ist für mich eine große Ehre und eine große Verpflichtung. Vor allem aber haben Sie durch diesen Preis Ihre Anerkennung und Sympathie dem estnischen Volk gegenüber zum Ausdruck gebracht, das das Joch der sowjetischen Okkupation abgeschüttet hat und mit einer bewunderungswürdigen Geschwindigkeit den eigenen Staat wieder aufbauen und den ihm gebührenden Platz in der Welt wieder einnehmen konnte. Diejenigen unter Ihnen, meine Damen und Herren, die das zielstrebige Handeln des estnischen Volkes verfolgt haben und die Gründe kennen, warum Estland zur ersten Erweiterungswelle der Europäischen Union oder in den ersten Korb zugelassen wurde, können mit gutem Gewissen bestätigen: Estland symbolisiert das, was in den Worten small is ''beautiful'' seinen Ausdruck findet.

Der Beschluß, das estnische Staatsoberhaupt mit dem Preis der Kleinstaaten auszuzeichnen, wurde vom Wissenschaftlichen Beirat des Europainstituts getroffen. Das ermutigt mich, heute hier in Salzburg, in der wunderbaren Residenz, auf einige Beobachtungen einzugehen, die vor allem Kleinstaaten betreffen. Ich tue das mit Freude, denn ich bin auf die Rolle der Kleinstaaten in der Welt zweimal in meinen Reden vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eingegangen und dieses Problem bleibt für mich auch in der Zukunft ein wichtiges Anliegen, denn es handelt sich um ein existentielles Problem für die Republik Estland.

Zunächst jedoch einige Verallgemeinerungen, die so bekannt sind, daß sie sich in diesem Saal fast wie Banalitäten anhören.

Erstens. Unsere Welt wächst nicht, aber die Zahl der Staaten wächst. Und es gibt kein Anzeichen dafür, daß diese Tendenz aufhört. Die Zahl der Kleinstaaten nimmt auch in der Zukunft zu, und es wäre leichtsinnig von der Welt, vor dieser Tendenz ihre Augen zu verschließen. Die Zahl der kleinen Staaten kann nur auf Kosten der großen wachsen. In den Teilen der Welt mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung können dadurch Spannungen vermieden und neue schöpferische Potentiale befreit werden, in den nichtdemokratischen Teilen der Welt wachsen dagegen Spannungen und werden neue Krisenherden erzeugt. Dies gilt vor allem für solche Regionen, wo koloniale Verhältnisse den Totalitarismus ernähren oder umgekehrt, wo totalitaristische Bedingungen koloniale Verhältnisse bewahrt haben.

Zweitens. In den fünf kleinsten Staaten der Welt leben insgesamt weniger als eine halbe Million Einwohner, etwa sechstausendmal weniger als in den fünf größten Staaten. Daraus entsteht die Frage: gibt es eine untere Grenze, eine Mindestgröße, unterhalb derer ein Staat nicht mehr als Staat funktionieren kann? Und die Umkehrung dieser Frage: gibt es auch eine Obergrenze, bei deren Überschreitung ein Größstaat nicht mehr effektiv ist?

Drittens. Gleichzeitig mit der Entstehung neuer Staaten, neuer Kleinstaaten, der wohl charakteristischsten Tendenz für das gesamte vergangene Jahrhundert, ist auch eine umgekehrte Tendenz wirksam, die wir als Globalisierung und Herausbildung von supranationalen Strukturen bezeichnen. Findet die erste Tendenz in der zweiten ihr Ende? Stellen die Kleinstaaten vielleicht nur eine embryonale Zwischenetappe dar, die nach der Geburt zu überwinden ist? Mit dieser Frage, meine Damen und Herren, sind auch die Hoffnungen und Sorgen Estlands verbunden, die wir empfinden, wenn wir den Verlauf der inneren Reformen der Europäischen Union verfolgen. Diese Frage, die heute so aktuell geworden ist, führt mich zur letzten und für mich heute wichtigsten Fragestellung, und nämlich:

Viertens. Ein kleiner Staat ist teuer. Die Kosten für verfassungsmäßige Institutionen, diplomatische Vertretungen, Landesverteidigung, Mitgliedsbeiträge in internationalen Organisationen, Rechtssystem, zahlreiche weitere Strukturen und internationale Verpflichtungen erlegen dem Steuerzahler eine viel größere Last auf als in großen Staaten. Wo liegt der Grund dafür, daß die Vertreter der kleinen Völker eine scheinbar irrationale Lösung - Souveränität als kostspieligere Daseinsweise - bevorzugen?

Meine Damen und Herren, die Antwort ist einfach. Der Mensch ist sterblich. Für den Menschen ist der Gedanke unerträglich, er könnte der letzte Vertreter seines Volkes, seiner Sprache, seiner Lebensweise, seiner Gewohnheiten und Werturteile, seiner Geschichte, all seiner Vorfahren sein. Der Mensch lebt in seiner Kultur, er wird darin geboren und er verläßt sie im Wissen, daß er durch sein Lebenswerk zu ihrer Unsterblichkeit beigetragen hat.

Der Mensch verwirklicht sich durch die Vertiefung seiner eigenen Identität und der Identität seines Staates. Noch mehr: die Standardisierung von Muttern und Bolzen, Maßen und Gewichten, Oktavzahlen oder Menschenrechten hat die Schöpferkraft des Menschen von der Routine befreit, hat ihm die Möglichkeit gegeben, kreativ wirksam zu sein, eine solche Identität herauszubilden, die vor allem oder nur für ihn selbst, für seine Kultur, seine Sprache, seinen Staat charakteristisch sind. Die Vielfalt der Denkweisen, wenn sie auf gemeinsamen demokratischen europäischen Werten beruht, ist eine Stärke, eine starke vorantreibende Kraft Europas. Also - wenn Europa Europa bleiben will, muß es dafür sorgen, daß es die Vielfalt der europäischen Kulturen - oder anders gesagt die inneren Unterschiede Europas - fördert und vertieft.

Darin wird die Mission der Kleinstaaten in Europa sichtbar. Ein kleiner Staat ist verletzlicher, folglich auch empflindlicher in bezug auf einen für unseren Kontinent freumden Hegemonismus und schneller bereit, darauf zu reagieren. Es ist die Aufgabe der kleinen Staaten, ein Barometer des europäischen Gleichgewichts zu sein. Ein Kleinstaat kann nur relativ definiert werden. Estland ist ein Kleinstaat im Vergleich zu Finnland, Finnland im Vergleich zu Schweden oder Polen, Polen dagengen im Vergleich zu Deutschland. Russland zu China. Folglich können wir in diesem Zusammenhang nur von Tendenzen sprechen: Wenn die Entwicklung Europas auch nur in Bezug auf den kleinsten Kleistaat paternalistisch verläuft, kann dies für das Phänomen Europa tödlich sein. Die Kleinstaaten können lästig sein, aber sie tragen das Gleichgewicht Europas. Wenn es keine Kleinstaaten gäbe in Europa, müßten die Großmächte sie ausdenken. Und es ist kein Zufall, daß die Europäische Union auf eine Initiative von drei Kleinstaaten zurückgeht.

Das Phänomen Europas ist die Kunst, das Gleichgewicht zu wahren, und noch mehr - dieses Gleichgewicht in eine für Kleinstaaten günstige Richtung, im Interesse der Bewahrung Europas als Idee, zu verschieben.

Das ist die härteste Nuß der inneren Reformen der Europäischen Union, die wir in Estland, wie Sie sehen, mit Erfolg geknackt oder wenigstens buchstabiert haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

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