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Ansprache des Staatspräsidenten der Republik Estland Dr. h.c. Lennart Meri Vor der Jahrestagung der Schwäbischen Gesellschaft in Stuttgart am 6. November 2000
06.11.2000

Die Erweiterung Der Eu Als Dynamo Des Neuen Europa


Herr Ministerpräsident,
Herr Dr. Adolff,
meine Damen und Herren,

Ich möchte meine Ansprache vor der Schwäbischen Gesellschaft mit einer Danksagung beginnen. Nach dem zweiten Weltkrieg fanden fünftausend estnische Kriegsflüchtlinge die erste Unterkunft in der Stadt Geislingen in Baden-Württemberg. Ich habe dort heute einen Kranz niedergelegt. Es ist niemals leicht, Flüchtlinge aufzunehmen und es war auch in Geilsingen nicht leicht. Heute, fünfzig Jahre später, kann die Republik Estland Sie vom ganzen Herzen für Ihren damaligen Samariten-Akt bedanken.

Meine Damen und Herren,

Estland ist 800 Jahre lang Teil des deutschen Kulturraums gewesen. Dies ist äußerst wichtig. Die estnische Hauptstadt Tallinn, auf Deutsch Reval, genauso wie auch unsere Städte Dorpat, Pernau und Fellin, gehörte zur Hanse. Bei uns galt das lübische Recht. Heutzutage ist das estnische Zivilrecht dem deutschen Recht sehr ähnlich. Am Ausarbeiten unseres neuen Grundgesetzes war der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und spätere Bundespräsident Roman Herzog persönlich beteiligt. Das ist Geschichte. Und überhaupt ist es die Geschichte, die Europäer zu Europäern macht.

Ich bin jedoch nicht zu Ihnen gekommen, um Sie von der Bedeutsamkeit der historischen Bande zu überzeugen. Ich bin gekommen, um über die Zukunft zu sprechen, darüber, wie wir das neue Europa aufbauen können. Ich möchte mich dabei auf drei Aspekte konzentrieren:

1) den wirtschaftlichen Aspekt
2) den politischen Aspekt, oder Erweiterung nach Stand der Vorbereitung
3) weitere Verhaltensregeln sowohl für Bewerberstaaten als auch für jetzige Mitglieder.

Oft werden gerade wirtschaftliche Erwägungen als der Grund erwähnt, warum sich die Europäische Union nicht jetzt erweitern sollte oder warum sie sich zumindest nicht so schnell erweitern sollte. Ich will hier dagegen behaupten, daß die Erweiterung nützlich ist, nützlich gerade aus dem wirtschaftlichen Aspekt. Ich bringe ein einfaches Beispiel von hier, aus Stuttgart. Eine Stuttgarter Firma, Brokat AG, hat im Frühjahr einen Vertrag abgeschlossen mit der schwedischen SE-Bank zum Ausbau ihrer Internetbank. Die SE-Bank ist aber mit Estland verbunden, durch ihre Beteiligung in der zweitgrößten estnischen Bank, ''Ühispank''. Damit hat die Stuttgarter Firma schon heute einen Nutzen davon, daß sich der estnische Finanzmarkt in den letzten zehn Jahren gewaltig entwickelt hat. Für deutsche Firmen und dadurch für das deutsche Volk insgesamt ist das Wirtschaftswachstum in Mitteleuropa von Nutzen gewesen. Wir haben unsererseits unsere Wirtschaft dank der Öffnung der neuen Märkte in den bisherigen Mitgliedsländern der Europäischen Union entwickeln können. In den letzten zehn Jahren hat eine richtige Symbiose zwischen den jetzigen und zukünftigen Mitgliedern der EU stattgefunden, und ich kann Ihnen versichern, daß diese Entwicklung nicht stattgefunden hätte, weder in die eine noch in die andere Richtung, wenn die Perspektive der EU-Erweiterung nicht vor unseren Augen gestanden hätte. Die Öffnung der europäischen Märkte im Zuge des Erweiterungsprozesses hat uns zusätzliche Einkommensquellen geboten; dank dem wachsenden Einkommen kaufen wir wiederum Erzeugnisse aus Deutschland, Schweden, Großbritannien. Sie kaufen unsere Waren, wir kaufen Ihre Erzeugnisse, in einer stetigen Aufwärtsspirale.

Der Runde Tisch Europäischer Industrieller hat ein ganzes Buch mit Beispielen darüber zusammengestellt, wie der Erweiterungsprozeß der Europäischen Union schon heute uns allen, den jetzigen wie den zukünftigen Mitgliedsländern, konkreten wirtschaftlichen Nutzen gebracht hat. Es muß besonders hervorgehoben werden, daß viele Investitionen in die Berwerberstaaten gerade mit dem Hintergedanken erfolgt sind, daß es sich um Länder handelt, die bald Mitglied des Gemeinsamen Marktes sein werden. Ohne dieses Wissen wären so manche Investitionen nicht getätigt worden. Ohne die Investitionen hätten wir heute weniger Geld, als wir doch schon haben. Und wenn wir das Geld nicht hätten, könnten wir Ihre Erzeugnisse nicht kaufen. So einfach, meine Damen und Herren, ist der wirtschaftliche Aspekt der EU-Erweiterung.

Gestatten Sie, daß ich kurz beim Thema Investitionen bleibe. Estland gehört für ausländische Investoren zu den attraktivsten Ländern in Mitteleuropa - wir sind in dieser Hinsicht ständig unter den drei besten und lagen im Jahre 1999 in den Investitionen pro Kopf der Bevölkerung nur hinter der Tschechischen Republik zurück. Nach dem letzten Weltinvestitionsbericht bildete der kumulative Bestand der Direktinvestitionen in Estland im Jahre 1998 35,6 % des Bruttoinlandsprodukts; das ist die höchste Zahl in Mittel- und Osteuropa und zweimal höher als der Durchschnitt der EU. Dadurch wird deutlich, daß Estland Investitionen anzieht. Der deutsche Anteil in den Gesamtinvestitionen liegt jedoch unter drei Prozent. Drei Prozent, meine Damen und Herren! Eine unglaublich kleine Zahl für ein so großes Land. Ich hoffe sehr, daß wir den deutschen Anteil erhöhen können, und daß mein heutiger Besuch hier in Stuttgart dazu einen Beitrag leistet.

Doch kommen wir zurück zum Thema meines heutigen Vortrages, und zwar zum zweiten Punkt - dem politischen Aspekt.

Meine Damen und Herren,

Europa ist, was wir selbst aus ihm machen. Dazu ist jedoch der Wille nötig. Ich habe viele skeptische Kommentare zu diesem Thema gelesen und gehört, die besagen, daß die neuen Mitgliedsstaaten den Besitzstand der EU gefährden. Wegen der Erweiterung sei es nämlich nicht möglich, wirksamere Mechanismen der Zusammenarbeit auszuarbeiten, deshalb sei es notwendig, möglichst schnell die Endphase der europäischen Integration, die sogenannte finalité politique zu erreichen, oder zumindest die Aktivitäten festzulegen, die zum Erreichen dieses Ziels notwendig sind. Mit neuen Mitgliedsländern sei dies nicht mehr möglich. Ich lese diese Kommentare, und ich bin zutiefst verblüfft - welches Ziel verfolgen wir denn nach der Auffassung dieser Kommentatoren mit dem Beitritt? Wollen wir die Europäische Union kaputtmachen? Wir wollen doch einer Organisation nicht beitreten, um sie zu zerstören, weil sie schwach ist, oder um sie zu schwächen!

In Wirklichkeit ist doch alles gerade umgekehrt. Der Beitritt Estlands zur Europäischen Union bringt in diese Organisation einen Staat, der bereit ist, mit denen Hand in Hand zu arbeiten, die wollen, daß die EU stark bleibt und sich weiter entwickelt. Meine Damen und Herren, wir wünschen einen Beitritt zur EU aus dem gleichen Grunde, warum Sie sie bewahren und verstärken wollen. Wir wünschen den Beitritt, weil die Europäische Union eine neue Qualität in der europäischen Zusammenarbeit darstellt, weil die Europäische Union eine starke politische Organisation ist und gute Aussichten hat, noch stärker zu werden!

Gleichzeitig kann man sehen, daß die Perspektive der Erweiterung der Europäischen Union schon heute eine neue Dynamik verleiht. Die Tatsache, daß heute über die inneren Reformen der EU diskutiert wird, um die inneren Mechanismen der Entscheidungsfindung zu vereinfachen, ist ja direkt durch die bevorstehende Erweiterung bedingt. Die innere Reform, die auch ohne Erweiterung der Europäischen Union nützlich ist, ist gerade unter dem Druck der bevorstehenden Erweiterung ernsthaft auf die Tagesordnung gesetzt worden. Genauso wie im Falle der Wirtschaft spielt auch hier die zukünftige Erweiterung schon heute eine positive Rolle. Wenn wir auf die Geschichte der Europäischen Union zurückblicken, können wir übrigens feststellen, daß gerade die Erweiterungsrunden die notwendigen Impulse verliehen haben, die für die unvermeidlichen Reformen so nötig waren.

Und jetzt zu meinem dritten Punkt. Wie geht es weiter?

Meine Damen und Herren,

damit wir diese positiven Impulse im Interesse einer fortgesetzten dynamischen Entwicklung ausnutzen können, in der Wirtschaft wie in der Politik, muß gewährleistet werden, daß die diesmalige Erweiterungsrunde der EU schmerzlos stattfindet, zumindest so schmerzlos wie nur möglich. Dafür gibt es zwei Voraussetzungen: Einerseits die Bereitschaft der Beitrittsländer, die weitreichenden strukturellen Reformen zu Ende zu führen, um sich auf den Europäischen Binnenmarkt vorzubereiten. Zum anderen brauchen wir eine Bereitschaft von Seiten der Mitgliedsländer, die Kandidaten entsprechend dem Stand ihrer Vorbereitung aufzunehmen.

Estland hat niemals ein Aufweichen der Aufnahmekriterien verlangt oder vorausgesetzt. Wir verstehen sehr wohl, daß die Europäische Union viel mehr ist als ein gemeinsamer Kulturraum. Die Europäische Union ist der europäische Binnenmarkt, sie ist ein komplizierter Mechanismus, auf dessen Anforderungen sich das neue Mitglied vorbereiten muß. Wir verstehen das, und wir arbeiten, um dieses Ziel zu erreichen. Ich kann Ihnen versichern, daß die Frage der Harmonisierung der Gesetzgebung ständig auf der Tagesordnung der Regierung steht, und auch die Ämter in unseren Ministerien reformieren ihre Strukturen, um den Anforderungen des Binnenmarktes gewachsen zu sein. Wir haben viel in die Umwelt, in die Sozialsphäre, in den Grenzschutz investiert, damit unsere Regeln und Ihre Regeln, unsere Normen und Ihre Normen übereinstimmen. Wenn wir über die Sozialsphäre sprechen, kann ich mit Stolz berichten, daß Estland der einzige mitteleuruopäische Bewerberstaat ist, der in den Beitrittsverhandlungen das Kapitel über Sozial- und Arbeitspolitik geschlossen hat. Und zum Thema Grenzschutz kann ich Ihnen versichern, daß der estnische Grenzschutz zu den besten in Europa gehört. Wenn Sie mir nicht glauben, fragen sie unsere finnischen Nachbarn. Wir arbeiten mit dem Ziel, am 1. Januar 2003 auf den Beitritt vorbereitet zu sein.

Wir erwarten von Deutschland und von anderen bisherigen Mitgliedern die Bereitschaft, die Beitrittskandidaten entsprechend dem erreichten Stand der Vorbereitung auch wirklich aufnehmen zu können. Und nicht, weil wir ein gemeinsamen kulturelles Erbe teilen, obwohl es sicher eine allgemeine Grundlage für die Erweiterung bildet, sondern weil der eine oder andere Staat tatsächlich imstande ist, die Regeln der Europäischen Union einzuhalten. Wenn die Erweiterung erfolgreich sein will, muß und kann sie nur nach dem individuellen Prinzip durchgeführt werden - ''wer fertig ist, kann rein''; ''who is ready, is ready''. Deutschland und die anderen Mitglieder haben versichert, daß sie bis Ende 2002 die Türen der Europäischen Union öffnen wollen; dies entspricht auch den estnischen Vorstellungen.

Meine Damen und Herren,

die Erweiterung der Europäischen Union ist für uns alle eine große Chance. Sie bedeutet die Wiederherstellung des gemeinsamen Kultur- und Wirtschaftsraumes, der in Europa jahrhundertelang existiert hat. Sie bedeutet aber auch neue Chancen für die Europäische Union. Schon heute können wir feststellen, daß die bevorstehende Erweiterung sowohl der europäischen Wirtschaft als auch der politischen Entwicklung der EU positive Impulse verliehen hat. Eine wirtschaftlich wie politisch starke Europäische Union liegt in unserem gemeinsamen Interesse, denn wir sitzen ja alle im gleichen Boot.

Die Erweiterung ist der Dynamo, der die europäischen Räder schneller in Bewegung setzt.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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