Reden
Suchen:
 
printversion

Rede des Präsidenten der Republik Estland im Deutschen Industrie- und Handelstag in Berlin, am 7.11.2000
07.11.2000

Wirtschaftswunder an der Ostsee - ohne Deutsche beteiligung?


Sehr geehrter Herr Hans-Rüdiger Janzen,
Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, daß Sie mich zu einem Vortrag im Deutschen Industrie- und Handelstag eingeladen haben. Neben den kulturellen sind gerade die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen derjenige Faktor gewesen, der uns durch Jahrhunderte am stärksten verbunden hat.

Sicher ist es für Sie keine Neuigkeit, daß die estnischen Städte Tallinn/Reval, Tartu/Dorpat, Pärnu/Pernau und Viljandi/Fellin schon im 13.-14. Jahrhundert zum Bund der Hanse gehört haben. Die estnischen Städte wurden nach Vorbild der deutschen Städte durch Magistrate, Gilden, Zünfte geführt. Estland und Livland wurden zu einer wichtigen Brücke zwischen Westen und Osten, zwischen Süden und Norden. Unsere engen Beziehungen zu Deutschland dauerten 800 Jahre bis zur sowjetischen Besatzung und konnten erst in den letzten 10 Jahren wiederaufgenommen werden.

Beim soeben zu Ende gegangenen Seminar haben Sie drei Vorträge gehört, die Ihnen ins Bewußtsein bringen sollten, daß das kleine Estland mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern im letzten Jahrzehnt unter allen mitteleuropäischen Staaten das größte Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte. Gleich nach der Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit im Jahre 1991 verstanden wir, daß wir nur durch radikale Wirtschaftsreformen die Kluft überwinden können, die zwischen unserer Wirtschaft und der unserer Nachbarn Finnland und Schweden entstanden war.

Dies hatte zur Folge, daß wir schon 1991 mit radikalen Wirtschaftsreformen begannen, die in mancherlei Hinsicht den deutschen Wirtschaftsreformen Ende der 40er Jahre ähnelten, auf denen das damalige deutsche Wirtschaftswunder beruhte. Unsere neue alte Währung - die Krone - wurde sofort frei konvertierbar und ist bis heute stabil geblieben, sie ist in einem Verhältnis von 1:8 fest an die D-Mark gekoppelt, und dadurch auch an den Euro gebunden.

Wir haben hart gearbeitet, um unseren Produzenten einen Zugang zu neuen Märkten zu ermöglichen. Ich kann Ihnen heute voller Stolz berichten, daß Estlands Handelsbedingungen zu den liberalsten in der ganzen Welt gehören. Bei uns fehlen Dotationen und Handelstarife. Estland hat gut funktionierende Freihandelsabkommen mit der EU, der EFTA und den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten. Estland ist Mitglied der Welthandelsorganisation. Estnische Waren haben freien Zugang zu einem Markt mit 600 Millionen Konsumenten.

Alle diese Schritte haben sich gelohnt, und ich freue mich, daß unsere Anstrengungen auch in verschiedenen internationalen Publikationen hervorgehoben worden sind. So ordnete die Heritage Foundation in ihrem neulich publizierten Index der wirtschaftlichen Freiheit (Index of Economic Freedom) Estland unter 161 Ländern 14. Platz ein, also vor Deutschland. Auch stieg Estland nach dem letzten Index der humanen Entwicklung des UNDP in die erste Gruppe, d.h. der hochentwickelten Länder.

Welche sind denn die wirtschaftlichen Fortschritte, auf die ich hingewiesen habe?

In den letzten 10 Jahren ist die Struktur unserer Wirtschaft mit der modernen europäischen Ländern im großen und ganzen vergleichbar geworden. Zwei Drittel unserer Wirtschaft bildet der Dienstleistungssektor, 25% die Industrie, der Anteil der Landwirtschaft liegt unter 5%.

Unsere Handelsbeziehungen mit der EU sind schnell gewachsen. Um die Mitte der 90er Jahre haben alle erwartet, daß der durchschnittliche Jahreswachstum des Handels auf 5 bis 10 Prozent sinken wird, doch unser Handel entwickelt sich nach wie vor schneller. So nahmen die estnischen Exporte zwischen 1997 und 1999 um 35% zu. Der Anteil der Mitgliedsländer der EU wächst dabei ständig, im zweiten Viertel des Jahres 2000 betrug ihr Anteil in unserem Export 75%. Die wichtigsten Handelsartikel sind dabei Maschinen und Anlagen, Holzerzeugnisse, Textilien und Lebensmittel.

In Estland sind Direktinvestitionen insgesamt im Umfang von 5 Milliarden D-Mark betätigt worden. Nach dem letzten Weltinvestitionsbericht bildeten die kumulativen Direktinvestitionen in Estland im Jahre 1998 35,6% des Bruttoinlandsprodukts. Das ist die höchste Zahl in Mittel- und Osteuropa und zweimal höher als der Durchschnitt der EU. Darin wird deutlich, daß Estland Investitionen anzieht. Die gewonnenen Erfahrungen hat Estland nicht nur für die eigene Entwicklung ausgenutzt. Wir haben unsererseits investiert und unser Wissen unseren Nachbarn vermittelt. Zusammen mit Deutschland und den USA gehört Estland zum Beispiel zu den größten Direktinvestoren in Lettland.

Heute ist unsere wichtigste Aufgabe, den im Produktionsprozeß gebildeten Mehrwert zu erhöhen und Innovationen nicht nur zu nutzen, sondern selbst Innovationen zu schaffen. Wir haben unsere Unternehmer von den Fesseln der Bürokratie befreit, infolgedessen wetteifern wir nicht mehr mit mitteleuropäischen Ländern um einen der vorderen Plätze in der Entwicklung, sondern haben auf einigen Gebieten, z.B. in der Internetbenutzung pro Einwohner auch viele Länder der EU überholt. Ein Drittel der Esten benutzt das Internet, und die Anzahl der Handys nähert sich der festen Telefonverbindungen. Mehr als 80% der Bankgeschäfte werden schon elektronisch abgewickelt. In diesem Sommer stellte die Wall Street Journal fest, daß die estnische ''Hansapank'' zu den drei technisch am besten entwickelten Banken der Welt gehört.

Wurden vor zwei-drei Jahren in Estland nur einige Teile für Mobiltelefone hergestellt, so stellen heute Nokia, Ericsson und Siemens in Reval/Tallinn ihre Endprodukte her, die direkt an den Käufer geliefert werden können. Ein weiteres gutes Beispiel stammt ebenfalls aus dem Telekommunikationssektor. Estland ist auch der europäische Vorreiter bei der Nutzung positionsbezogener Services per Handy, durch ein System das von 3 estnischen Firmen ausgearbeitet wurde. Diese Applikation kann sowohl für kommerzielle Zwecke wie auch in Notfällen gebraucht werden, da sie eine schnelle Ortung des Notrufs erlaubt. Estnische Ingenieure und IT-Fachleute entwerfen Mobiltelefonnetze für Brasilien, Tansania, die Tschechische Republik sowie für viele andere Länder der Welt.

Am 8. Dezember 1999 startete die EU das Programm ''e-Europa - Informationsgesellschaft für alle''. In diesem Programme werden die Ziele aufgezählt, die die Mitgliedsländer der EU bis Ende des Jahres 2001 erreichen sollten:

- alle Schulen sollen Zugang zum Internet und zu Multimediaanwendungen haben
- entsprechende Dienstleistungen sind für alle Lehrer und Schüler zugänglich
- auch in weniger entwickelten Gebieten werden öffentliche Zentren eingerichtet, in denen der Zugang zu Internet und Multimedia möglich gemacht wird.

Ich freue mich, hier feststellen zu können, daß wir in Estland diese Ziele schon erreicht haben. Schon vor drei Jahren haben wir ein Programm gestartet, das für jede estnische Schule einen Internetanschluß ermöglicht und im ganzen Land öffentliche Internetpunkte einrichtet. Wir haben sogar ein spezielles Verkehrszeichen geschaffen, das zeigt, wo man öffentliche Internetpunkte finden kann. Bei der Entwicklung von mobilen Internetverbindungen haben wir also gute Voraussetzungen, die Weltspitze mitzubestimmen. Die beiden beschriebenen Projekte haben schon mehrere europäische Preise erhalten, und der US-Bundesstaat Maryland ist dabei, nach estnischem Vorbild ein entsprechendes Verkehrszeichen einzuführen.

Ich kann hier auch ein gutes Beispiel von den estnisch-deutschen Beziehungen bringen. Schon seit mehreren Jahren hat die Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit e.V. bei der Erneuerung unserer Gesetze geholfen. Besonders wichtig ist das Handelsgesetzbuch gewesen. Heute können wir stolz sein, daß wir Deutschland einen Gegendienst leisten können. Die infotechnologische Lösung des estnischen Handelsregisters hat grosses Interesse auf deutscher Seite erweckt. Die Besprechungen zwischen den Justizministerien der beiden Länder sind fast am Ende und die erste Testversion wird bald im Bundesland Schleswig-Holstein in Betrieb genommen. Wenn diese Erfolg hat, kann sein, daß in einigen Jahren alle Handelsregister in Deutschland mit unserer infotechnologischen Lösung elektronisch arbeiten werden.

All diese Tatsachen sollten verdeutlichen, daß Estland nicht nur der richtige Ort zum Investieren ist, sondern auch ein Markt, der auf Ihre Erzeugnisse wartet. Es gibt keine Hindernisse auf Ihrem Weg. Deutschland und Estland haben mehr als 10 Abkommen zur Verbesserung der Geschäftsbedingungen abgeschlossen, darunter das Abkommen zur Förderung und zum gemeinsamen Schutz von Investitionen, das Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung usw. Darüber hinaus gelten für die Beziehungen zwischen unseren Ländern auch verschiedene Abkommen zwischen Estland und der EU.

Mit Bedauern muß ich jedoch feststellen, daß neben der deutschen Unterstützung im Bereich der Gesetzgebung, Politik, Kultur und Bildung der Anteil der deutschen Wirtschaft im estnischen Transformationsprozess verhältnismäßig bescheiden geblieben ist.

Nur dank der Entwicklung der letzten Jahre hat Deutschland endlich den dritten Platz in der Liste unserer Handelspartner erreicht und bleibt nur noch hinter Finnland und Schweden zurück. Der Export unserer Waren nach Deutschland hat sich bis heute im Vergleich zu 1994 verdreifacht, der Import aus Deutschland mehr als verdoppelt. Es freut mich festzustellen, daß die schnellste Entwicklung beim Export von Maschinen und Anlagen, vor allem von elektronischen Erzeugnissen, stattgefunden hat.

Der frühere bescheidene Platz Deutschlands ist in vielem mit dem Umfang der Investitionen in Estland verbunden. Deutsche Firmen und Privatpersonen haben in Estland 130 Millionen D-Mark direkt investiert, was nur 2,6% aller in Estland getätigten Direktinvestitionen ausmacht. Bis heute sind in Estland rund 250 Firmen mit deutscher Beteiligung registriert. Die meisten Investitionen kommen jedoch aus kleinen und mittleren Unternehmen, wobei die größte Einzelinvestition aus Deutschland knapp 20 Millionen D-Mark beträgt.

Ich hoffe, daß mein heutiger Vortrag sowie die Seminare in Stuttgart, Berlin und Fleesensee während meines Besuchs in Ihrem Land dazu beitragen, daß Deutschland seine historisch starken Wirtschaftspositionen in Estland wieder aufbaut. Obwohl unsere guten Nachbarn Finnland und Schweden auch unsere wichtigsten Handels- und Investitionspartner sind, sind wir sehr von einer ausgewogeneren Wirtschaft mit stärkeren Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland als der führenden Wirtschaftsmacht der EU interessiert.

Wie Sie sicher wissen, wollen wir mit der EU jedoch nicht nur Handel treiben. Wir wollen auch selbst Mitglied der EU werden - und dies sobald wie möglich. Wir erwarten von Deutschland und von anderen Mitgliedsländern der EU die Bereitschaft, die Bewerber gemäß dem erreichten Stand ihrer Vorbereitung aufzunehmen. Und nicht wegen der gemeinsamen Geschichte und des gemeinsamen kulturellen Hintergrunds, selbst wenn diese Faktoren generell eine Grundlage für die Erweiterung bilden, sondern wegen der Tatsache, daß der eine oder andere Staat tatsächlich fähig ist, die Regeln der EU einzuhalten. Wenn die Erweiterung erfolgreich sein will, muß und kann sie nur nach individuellen Prinzip durchgeführt werden - ''wer fertig ist, kann rein''. Bundeskanzler Schröder gehört zu den Politikern, die mehrmals betont haben, daß die Europäische Union bis Ende 2002 erweiterungsfähig sein soll. Das bedeutet aber, daß die ersten Staaten schon im Jahre 2003 der EU beitreten können. Und ich versichere Ihnen, daß Estland die Absicht hat zu diesen Staaten zu gehören.

Die Erweiterung ist letztendlich für beide Seiten nützlich. Und dies nicht nur politisch, sondern vor allem wirtschaftlich. Darüber wird zwar meistens nicht gesprochen, aber es ist eine Tatsache, daß die wachsenden Wirtschaften in den Bewerberländern - die zum Teil dank den Investitionen wachsen, die dort in Erwartung eines baldigen EU-Beitritts getätigt worden sind - für neue Kunden für die Unternehmen der bisherigen Mitgliedsländer sorgen. Westeuropa hat daran verdient, daß sich Mittel- und Osteuropa so schnell entwickelt hat, aber genauso haben wir am Export in die EU verdient. Die Erweiterung IST wirtschaftlich nützlich.

Estland wünscht sich jedoch eine starke Europäische Union. Warum wollen wir denn überhaupt beitreten? Wenn es nur um den Freihandel ginge, könnte es bei unseren jetzigen Beziehungen bleiben. Wir wünschen uns ein starkes und handlungsfähiges Europa, das sich den Herausforderungen des neuen Jahrtausends stellen kann.

Meine Damen und Herren,

am Anfang meiner Rede nannte ich das, was in Estland stattgefunden hat, ein Wirtschaftswunder. Ich glaube, sie stimmen mir zu, daß es eine außerordentliche Leistung ist, wenn an die Stelle der damaligen Abhängigkeit zu 90% von den GUS-Staaten ein Außenhandel zu 75 bis 80% mit der EU sowie ein Strom von Direktinvestitionen aus der EU getreten ist. Wenige Staaten haben dermaßen radikale Veränderungen in einer so kurzen Zeit durchführen müssen. Deutschland ist eines der wenigen Länder, das über diese Erfahrung verfügt, und das sogar zweimal, nach dem II. Weltkrieg und beim Aufbau der neuen Bundesländer nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Ich glaube, daß Sie besser als viele andere verstehen, wie wichtig in dieser Situation die Unterstützung durch wohlhabendere Länder und direkte Investitionen sind. Ich hoffe, daß was Sie Heute gehört haben Sie überzeugt hat, daß angesichts der estnischen Entwicklung der letzten Jahre es nicht nur möglich, sondern auch empfehlenswert ist den deutschen Anteil in der weiteren Entwicklung Estlands zu einem vollwertigen Mitglied der EU wesentlich zu erhöhen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

zurück | archiv | start

Speeches Kõned Reden Erklärungen Interviews