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Ansprache des Staatspräsidenten der Republik Estland Herrn Lennart Meri beim Abendessen des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland am 7. November 2000 im Schloß Bellevue
07.11.2000

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Rau,
sehr verehrte Frau Christina Rau,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

Gestatten Sie mir zunächst, Ihnen für Ihre freundlichen Worte zu danken. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir immer Sympathien des deutschen Volkes empfunden.

Mein Staatsbesuch soll gerade die Bedeutung dieser Epfindungen unterstreichen. Seit der deutschen Wiedervereinigung und der Wiederherstellung der estnischen Uanbhängigkeit haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Unsere Beziehungen sind gut, denn wir empfinden gleichermaßen die Notwendigkeit, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Unsere Beziehungen sind sehr gut, denn wir empfinden gleichermaßen die Notwendigkeit, die Europäische Union, die Heimat unserer gemeinsamen Werte, zu erweitern.

Estland, das estnische Volk und die estnische Kultur sind seit fünfzig Jahrhunderten ein Teil Europas gewesen. Wir lebten in unserer Heimat an der Ostsee, sprachen unsere Sprache schon in der Zeit, als im antiken Rom die ersten Hütten mit Stroh bedeckt wurden. Wir führten Handel mit West und Ost, Nord und Süd. Die Wirbelstürme der Völkerwanderung haben Estland nie berührt, wohl aber die Ausstrahlung verschiedener Kulturen. Estland war eine Zeitlang das nördlichste Gebiet Europas, das noch Getreide angebaut und es an Nachbarn verkauft hat.

Diese uralten Felder sind auch heute noch sichtbar. Sie sind ein Teil unserer Identität und damit so selbstverständlich, daß wir uns nie gefragt haben, welche Spuren Estland und das estnische Getreide in die Urzeit Nordeuropas, meinetwegen Schleswig-Holsteins, hinterlassen hat. Oder in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, dessen nördlichste Provinz Estland wurde. Wir waren offen, wir blieben bestehen, wir überlebten nur, weil wir offen gewesen sind, und heute wieder dem offen sind, was von den Politikern mit dem leicht geheimnisvollen Ausdruck 'Gemeinsame Werte Europas' bezeichnet wird. In Estland bedeutet er die Verschmelzung unserer uralten Rechtsvorstellungen mit dem Völkerrecht, die uns durch den Wechsel der Zeiten einen festen rechtlichen Rahmen, innere Würde und festen Glauben an persönliche Rechte und Gerechtigkeit verliehen haben. Unsere Städte besitzen ein Ihnen so vertrautes hanseatisches Gepräge, dennoch sind sie estnische Städte, aus dem Kalkstein der Ostseeküste mit geschickten Händen der Esten gebaut. In diesem Jahr feiern wir den 475. Jahrestag des estnischen Buches, aber unsere ersten Bücher und Zeitungen wurden in gotischer Schrift in Deutschland gedruckt. Die Philosophie des nationalen Erwachens kaum durch die deutschen Pastoren nach Estland, die den Text ihrer Predigt in Deutsch und in Estnisch vorlegen mußten, um eine Pastorenstelle zu bekommen. Im siebzehnten Jahrhundert, unter der schwedischen Krone, haben die Esten lesen und schreiben gelernt, und im 19. Jahrhundert wurde das estnische bis dahin mündliche Volksschaffen aufgezeichnet: Millionen von Verszeilen, vielleicht die größte Sammlung der Welt, wurde Geschichte, damit zu einer schriftlich formulierten Hoffnung und damit zu einem politischen Programm. Aus den ersten Manufakturen Nordeuropas entstanden die ersten nordeuropäischen Fabriken, die zu Zentren der nordeuropäischen Sozialdemokratie wurden. Seitdem verbindet uns außer der Nähe unserer Kulturen die gleiche Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit sowie die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft.

Es überrascht nicht uns, sondern die Deutschen, daß das erste Denkmal an Friedrich Schiller in der Welt im Jahre 1813 nicht in Deutschland, sondern in Estland errichtet wurde. Es war ein Sturm und Drang, in zwei verschiedenen Sprachen. Die schwierigsten Zeiten, die größten Verluste sind ein Ergebnis der beiden totalitären Irrlehren dieses Jahrhunderts, dem sowjetischen und nazionalen Sozialismus. Ihre ideologischen Wurzeln waren verschieden, gleich waren aber die Folgen: Estland verlor ein Viertel seiner Bürger und wurde für Jahrzehnte hinter den Eisernen Vorhang gesperrt. Unser Kampf um eine bessere Zukunft wird durch ein gemeinsames Datum symbolisiert: am 31. August 1994 verließ der letzte Soldat der Roten Armee den estnischen und auch den deutschen Boden, als Träger und zugleich Opfer des Totalitarismus, und an diesem Tag wurde hier in Berlin und bei uns in Tallinn die Befreiung von den Schatten der Vergangenheit begangen. Wir haben die brüderlichen Glückwünsche des Abgeordneten des Deutschen Bundestages, Herrn von Stetten, nie vergessen, die er an diesem Tag aus Berlin nach Tallinn gebracht hat, am Tag, der ein neues Kapitel in der Geschichte eines großen und eines kleinen Staates eingeleitet hat.

Den Inhalt dieses Kapitels bildet die Rückkehr Europas an die Ostsee. Nicht die Rückkehr Estlands nach Europa, denn Estland hat Europa nie verlassen. Estland ist stark und treu geblieben, Europa war es, das aus unterschiedlichen Gründen schwach und treulos gewesen ist. Diese Rückkehr Europas hat auch einen Namen: Erweiterung der Europäischen Union nach Estland, Erweiterung der NATO nach Estland. Diese beiden Ziele sind der Inhalt der letzten zehn Jahre in Estland gewesen, und unser Volk kann stolz sein, daß wir uns gegenwärtig schnellen Schrittes diesen Zielen nähern. Wir können zweifach stolz sein, denn Geschwindigkeit und Geschick unseren Voranschreitens wurden nicht durch West-Deutschland unterstützt, das es ja im Falle Estlands nicht gab, sondern nur von unserem eigenen politischen Willen getragen, der aus unserem gemeinsamen Kulturraum und unseren schmerzhaften historischen Erfahrungen Kraft schöpfte.

Wir haben Estland erneuert, wir haben Estland zu einem Rechtsstaat mit einer europäischen Gesetzgebung gemacht, der liberaler ist als Deutschland, und dieser Staat hat Vertrauen, Anerkennung und Bewunderung gefunden. Umso bitterer ist es für mich, hier feststellen zu müssen, daß die deutschen Direktinvestitionen in die estnische Wirtschaft nur 3 % des gesamten nach Estland investierten Kapitals ausmachen. Vor einma Vierteljahrhundert habe ich hinter dem Eisernen Vorhang ein Buch über die Entdeckungsgeschichte des Ostseeraumes geschrieben, jetzt glaube ich, müßte ich für die deutsche Wirtschaft ein neues Buch über die Entdeckung der Republik Estland schreiben. Wir sind in Estland weit vorangekommen.

Nach dem Entwicklungsstand unserer Informationstechnologie sind wir die ersten in Mitteleuropa und gehören auch zur ersten Hälfte der Europäischen Union, wir sind nicht mehr Hilfeempfänger, sondern helfen selbst nach Kräften Anderen; wir haben ein stabiles Banksystem aufgebaut, wir haben die Privatisierung abgeschlossen und, was mich am meisten freut, wir bauen. Wir bauen nicht nur moderne Bankgebäude, sondern auch moderne Einfamilienhäuser, und wir exportieren sie auch hierher, nach Deutschland. Deshalb, liebe deutsche Freunde, kann sich Estland mit einem Abschwächen des politischen Willens in der Europäischen Union nicht abfinden. Wir wollen schnelle und klare Antworten auf die Frage, wann Estland der Europäischen Union beitreten kann. Estland, und das möchte ich hier klar betonen, ist dazu im Jahr 2002 bereit. Verstehen Sie mich bitte richtig: alle Bündnisse, die ihr Ziel im Bündnis selbst gesehen haben, sind in der Geschichte früher oder später auseinandergefallen. Nur die Bündnisse können Bestand haben, die bereit sind, sich zu erweitern und neue schöpferische Kräfte einzubeziehen.

Estland kann seine Aufgaben in der Europäischen Union würdig wahrnehmen.

Das ist der estnische Beitrag zu einem starken und stabilen Europa, den wir unserem Kontinent wegen des Eisernen Vorhangs erst jetzt anbieten können. Das ist die Verpflichtung Europas vor dem zwanzigsten Jahrhundert. Das, geehrte Anwesende, ist unser gemeinsamer Weg.

Herr Präsident, Frau Christina Rau, gestatten Sie mir, im Namen der Republik Estland, der Delegation der Republik Estland, von meiner Gattin und von mir selbst, uns allen auf diesem Weg Erfolg, gutes Gelingen und moralische Zufriedenheit zu wünschen.

Wir wollen das Glas erheben auf den Deutschen Bundespräsidenten und auf Frau Christina Rau, auf das Glück Deutschlands und die Prosperität der Europäischen Union!

 

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