Reden
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Der Präsident der Republik Estland Dr. h.c. Lennart Meri vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Berlin, den 8. November 2000
08.11.2000

Estland Als Prüfstein Der Europäischen Integration?


Sehr geehrter Herr Bunz,
Sehr geehrter Herr Dr. Stabreit,
Sehr geehrter Herr Dr. Zumpfort,
Exzellenzen,
Meine Damen und Herren,

schon Anfang 1993, als ich gerade meine erste Amtsperiode als Staatspräsident Estlands begonnen hatte, hielt ich eine Rede mit einem ähnlichen Titel in Stuttgart. Der Titel damals war ''Das Baltikum - Prüfstein für die Union Europas''. Damals waren Estland und unsere baltischen Nachbarn dieser Prüfstein, der beweisen sollte, ob es möglich sein wird, zwischen Rußland und Europa ein auf neuen Grundsätzen beruhendes Verhältnis zu schaffen. Wir dienten als Prüfstein für die Fähigkeit Europas und der USA, gemeinsame Werte in ganz Europa durchzusetzen. Damals ist es gelungen. Jetzt, da von meiner zweiten und zugleich auch letzten Amtsperiode elf Monate übriggeblieben sind, ist es passend, den Kreis zu schließen und wieder zu diesem Thema zurückzukommen.

Heute, meine Damen und Herren, stehen wir vor einer neuen Herausforderung. Heute geht es nicht mehr um das Verhältnis zwischen Rußland und Europa, sondern vor allem um das Verhältnis Europas zu sich selbst. Es geht um die Fähigkeit, um den Willen europäischer Staaten klare Beschlüsse zu fassen und den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Es geht um die Führungsrolle Deutschlands diese Prozesse zu steuern. Meine heutige Rede umfaßt darum heute drei Punkte:

Erstens, die internen EU-Reformen aus der Sicht Estlands.
Zweitens, wie geht es weiter mit dem Erweiterungsprozeß?
Drittens, die NATO Erweiterung.

Estland wünscht sich eine starke Europäische Union. Warum sollten wir sonst beitreten wollen? Wenn unser Ziel nur Freihandel wäre, könnten wir beim heutigen Stand unserer Beziehungen bleiben - schon jetzt exportieren wir über 70% in die EU-Länder. Wir wünschen uns ein starkes und tatkräftiges Europa, das sich den Herausforderungen des neuen Jahrhunderts stellen kann. Meine Vision von Europa ist ein Europa der Staaten, in dem die Kommission jedoch eine starke Rolle spielt. Die Europäische Kommission ist Hüterin der Verträge, sie ist der Motor, der die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes vorantreibt und sie beflügelt hat. Sie ist das Organ, das garantiert, daß die Europäische Union, in der es einerseits einen Staat wie Luxemburg gibt - und bald auch einen Staat wie Estland - und andererseits einen Staat wie Deutschland, so funktionieren kann, daß auch die kleinen Staaten spüren, daß ihre Interessen berücksichtigt werden. Deshalb hat Estland öffentlich seinen Wunsch artikuliert, in der Zukunft unter den Kommissaren auch eine Estin oder einen Esten zu sehen.

Gleichzeitig ist und bleibt die Europäische Union eine zwischenstaatliche Organisation. Auch die Esten möchten nicht, daß ihr nationaler Staat verschwindet, daß wir nicht mehr eine eigene Regierung, eigene Sitten, eine eigene Sprache hätten. Zu hart haben wir für sie kämpfen müssen, um auf sie so einfach zu verzichten. In den zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb der Europäischen Union müssen wir aber auch die Tatsache akzeptieren, daß es Deutschland gibt und Estland, und daß die beiden Länder nicht gleich groß sind. Und damit müssen wir auch den berechtigten Wunsch Deutschlands akzeptieren, den Abstimmungsmechanismus so zu verändern, daß die Größenverhältnisse mehr Gewicht bekommen als bisher. Es ist eine komplizierte Aufgabe: einerseits haben die Großen recht, wenn sie wünschen, daß sie stärker als bisher berücksichtigt werden, andererseits darf dies aber nicht auf Kosten der Kleinen geschehen. Es darf kein Kollegium der Großmächte entstehen, in dem Entscheidungen ohne Absprache mit kleineren Staaten getroffen werden. Es ist eine paradoxale Aufgabe, aber ich bin überzeugt, daß sie innerhalb der gesetzten Zeitgrenzen gelöst werden kann.

Die Beitrittsländer sind ja auch Teil dieser Diskussionen - und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt.

Die Erweiterung ist nicht wichtiger als die innere Entwicklung; die inneren Reformen umfassen auch die Erweiterung. Und dennoch ist die Erweiterung ins Stocken geraten. Ich bemerke schon unzufriedene Gesichter im Saal, deshalb möchte ich gleich hinzufügen: Ich behaupte keinesfalls, daß die Erweiterung überhaupt nicht vorankommt, aber sie kommt nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit dem gleichen elan, voran wie noch vor einigen Jahren. Allzu häufig ist in diesem Zusammenhang heute ein ''Ja, aber...'' zu hören. Während vor einigen Jahren noch selbstbewußt erklärt wurde, die Erweiterung könne ziemlich bald stattfinden, wird heute immer mehr davon gesprochen, daß vorher noch dies und jenes getan, das eine und das andere erledigt werden müsse, bevor die ersten neuen Mitglieder aufgenommen werden können. Einige haben auch plötzlich entdeckt, daß es eigentlich nicht am besten sei, die Staaten nach dem erreichten Stand der Vorbereitung nacheinander oder in kleineren Gruppen aufzunehmen, sondern daß es sinnvoller sei, die ersten warten zu lassen und dann sehr viele Anwärterstaaten auf einmal aufzunehmen.

Meine Damen und Herren, solche Diskussionen erinnern mich an die Geschichte vom Stadtwächter von Reval, dem Alten Toomas, der auch heute noch von der Spitze des Rathauses über die Stadt Reval wacht, und vom Alten vom Ülemiste-See, einem Wassergeist. Der Ülemiste, für diejenigen von Ihnen, die es nicht wissen, ist ein See in der Nähe von Reval, der höher liegt als die Stadt und aus dem sie schon seit Jahrhunderten ihr Trinkwasser bezieht. Die Geschichte ist aber die folgende: einmal im Jahr kommt der Ülemiste-Alte aus dem See, pocht an das Stadttor und fragt, ob Reval schon fertig sei. Der Alte Toomas, der das Tor öffnet, muß antworten, nein, die Stadt ist noch nicht fertig und wird auch nicht so bald fertig, worauf der Alte mürrisch und unzufrieden in seinen See zurückkehrt. Würde Toomas antworten, die Stadt sei fertig, würde der Alte die Schleusen öffnen und unsere schöne Hauptstadt ins Meer spülen.

Die ganze Diskussion um die Erweiterung der Europäischen Union erinnert mich gerade deshalb an diese Geschichte, weil man in Europa wie auch in Reval immer etwas finden kann, was noch nicht fertig ist. So wird es immer bleiben. Denn Europa entwickelt sich, es ist nicht statisch. Wenn es statisch wäre oder eines Tages stagnieren würde, müßten wir alle Angst haben vor dem Ülemiste-Alten. Es ist aber gut, daß sich Europa entwickelt, daß es nicht stagniert, und das ist gerade der Grund, warum wir in die Europäische Union wollen. Die Tatsache, daß es sich entwickelt und daß es ständig neue Ideen gibt, während alte verworfen werden, kann nicht der Grund sein, die Erweiterung zu bremsen. Europa entwickelt sich unter dem ständigen Einfluß dynamischer Kräfte. So wie wir den Beitritt zur Europäischen Union brauchen, braucht die Europäische Union diese frische Luft, dieses neue Blut, die die Erweiterung mit sich bringt.

Estland ist in dieser Frage gerade deshalb ein Prüfstein für Deutschland und Europa, weil Estland zu den Staaten gehört, die im Kontext von ''Ja, aber...'' am häufigsten erwähnt werden. ''Ja, ihr seid einer der mitteleuropäischen Staaten, die am weitesten gekommen sind, aber...''. Ich bin überzeugt, daß dieses Herangehen falsch ist. Es ist nicht nur falsch in Bezug auf uns, die wir uns jahrelang angestrengt haben, um auf den Beitritt zur Europäischen Union ausgehend vorbereitet zu sein. Gerade so wurden die Spielregeln ja einst festgelegt. Es ist auch falsch in Bezug auf die jetzigen Mitglieder, in deren Interesse es liegt, daß die Beitrittsländer imstande sind, den Aquis communautaire zu übernehmen und anzuwenden, damit sie als Mitglieder der EU agieren können. Eine Erweiterung als eine große Gruppe irgendwann in einer nebligen Zukunft negiert dieses Prinzip. Dieses Herangehen läßt bei den erfolgreichsten Reformstaaten wie Estland die Frage aufkommen, ob sie wirklich hätten diesen politischen Preis zahlen müssen, soviel Geld und soviel geistige Ressourcen einsetzen müssen, um so früh und viel in die Übernahme der Gesetze und Verordnungen der EU zu investieren. Denn die estnische Regierung hat ja politisch darin investiert, Estland bis zum 1. Januar 2003 auf den Beitritt zur Europäischen Union vorzubereiten. Dieses Datum ist auch von den leitenden Persönlichkeiten der Europäischen Union selbst als der Tag angekündigt worden, an dem die EU bereit sein muß, neue Mitglieder aufzunehmen.

Die Europäische Kommission hat in ihrem Heute veröffentlichten Bericht noch einmal festgestellt, daß Estland nach wie vor zu den führenden Ländern unter den Beitrittskandidaten gehört. Sie hat auch ihre Vision erläutert wie der Erweiterungsprozess weiter gehen soll. Estland seinerseits will bis zum 1. Januar 2003 auf den Beitritt vorbereitet sein. Ich will sehr hoffen, daß auch die Mitgliedsstaaten der Europäische Union dann bereit sein werden, die Türen zu öffnen.

Mein dritter Punkt, meine Damen und Herren, betrifft den Erweiterungsprozeß der NATO. Für Estland ist sie nicht weniger bedeutend als unser Streben nach EU-Mitgliedschaft. Wir arbeiten parallel in beide Richtungen. Für uns sind beide ein Teil dessen, was es heißt, ein volles Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft zu sein.

Mit beiden Organisationen unterhalten wir uns schon über technische Einzelheiten: mit der Europäischen Union im Rahmen der Beitrittsverhandlungen, mit der NATO im Rahmen des MAP. Und doch, so glaube ich, denken so manche in diesem Saal, im Unterschied zur Europäischen Union hat die NATO sich überhaupt nicht entschloßen uns einzuladen. Ich denke, ich täusche mich nicht.

Aber ich denke zugleich daß Sie sich täuschen. Denn eigentlich hat die NATO viel mehr getan, als viele wahrgenommen haben. Der jetzige Erweiterungsprozeß der NATO dauert ja schon fast zehn Jahre, seit 1992, als der damalige Generalsekretär und mein guter seliger Freund Manfred Wörner sagte, daß die Staaten des ehemaligen Ostblocks der Allianz beitreten können. 1995 begann die NATO mit ihrer Erweiterungsstudie (Study on Enlargement), die alle Interessierten aufrief, sich dem Erweiterungsprozeß anzuschließen. Der NATO-Gipfel von Madrid im Jahre 1997 beschloß, Polen, Ungarn und Tschechien zum Beitritt zur Allianz einzuladen, würdigte jedoch auch die Anstrengungen weiterer Staaten, darunter Estlands, und betonte, daß die Fortschritte der Staaten unabhängig von ihrer geographischen Lage bewertet werden. Der Washingtoner Gipfel im vergangenen Jahr erwähnte Estland schon offiziell als einen Kandidaten für den Beitritt zur NATO. Den MAP, den Mitgliedschaftsaktionsplan, der in Washington verabschiedet wurde und uns bei der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft helfen soll, habe ich schon erwähnt. Meine Damen und Herren, Sie sehen, daß es sich bei der Erweiterung der Allianz um einen längerfristigen Prozeß handelt, der sich über mehrere Jahre entwickelt hat und Estland von der Position eines Partners in den Rang eines anerkannten Beitrittskandidaten gebracht hat.

Was bedeutet das? Das bedeutet vor allem, von den Mitgliedsländer der NATO ist ein Wechsel ausgestellt worden. Einerseits ein Wechsel darauf, daß sich die Allianz auch weiter erweitern wird, daß ''die Tür geöffnet bleibt'', und andererseits darauf, daß Estland ein Teil dieses Prozesses ist. Wir haben das ernst genommen und beschlossen, im Namen dieses Ziels zu arbeiten, um vorbereitet zu sein, wenn die NATO beim nächsten Gipfeltreffen neue Einladungen zur Erweiterung ausspricht. Unsere Verteidigungsausgaben wachsen: in diesem Jahr bildeten sie 1,6 % unseres Bruttosozialprodukts, im nächsten Jahr ist die entsprechende Zahl 1,8 % und im Jahr 2002 wollen wir 2 % erreichen. Wir haben eine Infrastruktur geschaffen, der uns in der Zukunft einen organischen Anschluß an die NATO ermöglicht, wir wollen sie weiter ausbauen und die Ausbildung verbessern. Wir haben an den Friedensmissionen auf dem Balkan und anderswo teilgenommen und wollen es auch in der Zukunft tun. Estland hat ausgehend von der politischen Botschaft der NATO-Mitgliedsländer seine politische Entscheidung getroffen.

Wir wissen alle, daß es auch diejenigen gibt, die weder heute noch morgen oder übermorgen einen NATO-Beitritt Estlands und anderer baltischer Länder für richtig halten. Mein Gegenargument für die Zweifler ist, daß wir gemeinsam diesen Punkt schon hinter uns gelassen haben, wo die NATO-Mitgliedschaft die große Ambition eines kleinen nordeuropäischen Landes war. Heute ist die Realisierung dieses Ziels zu einem Prüfstein für Europa geworden - wird Europa sein Versprechen einhalten, steht Europa zu seinen Worten, daß die Sicherheit unteilbar ist und jeder Staat das Recht hat, frei über seine Zugehörigkeit zu Bündnissen zu entscheiden. Wieder einmal ist Estland ein Prüfstein.

Unser gemeinsames Interesse als Europäer, als zukünftige Partner in der Europäischen Union, ist die politische Glaubwürdigkeit Europas. Ebenso ist es unser gemeinsames Interesse, daß Europa sich nicht mit Fragezeichen belastet. Wenn Estland in die Europäische Union aufgenommen wird, hinter der Tür der NATO aber stehen bleiben muß, was soll das dann bedeuten? Meine Damen und Herren, ich wage zu behaupten, daß inzwischen sogar Moskau allmählich die Tatsache akzeptiert, die baltischen Staaten werden bald Mitglied der NATO sein. Russische Analytiker, die dies behaupten, erwähnen auch, daß sich Rußland auf diese Situation einstellen und seine Zusammenarbeit mit der Allianz verstärken muß. Diese Idee kann Ihnen radikal scheinen, ich möchte aber dennoch behaupten, daß die Nichtberücksichtigung der baltischen Länder in der nächsten Erweiterungsrunde in Moskau mehr Fragen aufwerfen würde als unser Beitritt zur NATO.

Jedenfalls würden dort Fragen entstehen, wo es keine Fragen geben darf, nämlich in Bezug auf die Bereitschaft der Europäischen Union und der NATO, der Garant für die europäische Stabilität zu sein. Die Versuchung würde entstehen diese Bereitschaft auf die Probe zu stellen. Das, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht zulassen. Das kann Europa sich nicht leisten. Die Einladung an Estland beim Gipfeltreffen der NATO im Jahre 2002 ist ein Prüfstein für die europäische Sicherheit.

Meine Damen und Herren,

ich habe zusammen mit Ihnen in die Vergangenheit, in die Gegenwart und kurz auch in die Zukunft geblickt. Seit 1993 hat sich wirklich viel geändert. Europa hat sich entwickelt, Estland hat sich stark entwickelt. Es sind neue Heruausforderungen entstanden, die nicht weniger wichtig sind. Das Problem sind nicht die Herausforderungen, sondern die Frage, ob wir uns ihnen stellen können. Im Jahre 1989, als hier die Mauer fiel und in Estland 300 000 Menschen sich versammelten, um das Lied der Freiheit zu singen, und im Jahre 1990, als zwei Millionen Esten, Letten und Litauer in der baltischen Kette von Reval bis Wilno einander die Hände reichten und das deutsche Volk seine Wiedervereinigung beschloß, konnten wir über unsere unmittelbaren Tagesprobleme hinaussehen.

Ich bin überzeugt, daß Estland und Deutschland als Europäer gemeinsam die vor uns stehenden Herausforderungen bewältigen können, so wie wir die Herausforderungen der Vergangenheit bewältigt haben. Um gemeinsam den neuen entgegenzutreten. Doch wäre dies schon ein Thema für meine nächste Rede.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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