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Staatspräsident Lennart Meri zur Eröffnung der deutsch-estnischen akademischen Woche Academica in Tartu (Dorpat)
15.09.1997

Sehr geehrter Herr Rektor,
sehr geehrter Herr Botschafter,
meine Damen und Herrn!

Die schriftliche Kultur Estlands, unsere moderne Kultur, unsere Wissenschaft und unsere Universität sind jung. Ihr Werdegang beinhaltet Dramatismus und Romantik. Der Beginn der modernen Kultur nimmt ihren Anfang mit der Lesefertigkeit - und diese Fertigkeit ist unzertrennbar von der Kirche, von Predigten und vom Liederbuch, von der Übersetzung der Bibel.

In allem Aufgezählten sind wir Kinder der estnischen und europäischer Kultur. Unsere ersten Grammatiken stammen von deutschen Pastoren, die es erkannt haben, dass sie das Volk in der Sprache dieses Volkes ansprechen müssen.

Mit rührendem Eifer haben sie versucht, die Gesetzmässigkeiten dieser Sprache zu erfassen.

Der Dramatismus besteht darin, dass nach einem gewissem Niveau die zentrifugalen Tendenzen überwiegen, ein Streben nach Selbständigkeit, das man erst später als Suche nach eigener Identität bezeichnet.

Wie in Deutschland die Gebrüder Grimm, durchwanderten unsere Grimms Estland auf der Suche nach Folklore, jenes ''ungeschriebenen Schrifttums,'' - wenn sie mir erlauben, das unübersetzbare Wortpaar meines finnischen Freundes Matti Kuusi zu benutzen, - auf finnisch und auf estnisch klingt es recht schön: kirjoittamaton kirjallisuus, kirjutamata kirjandus, - kurzum, um aus dieser Substanz gleich den Gebrüder Grimm ein estnisches ''Volksgeist'' zu synthesieren.

Ich spüre in diesem Werdegang auch Romantik, ein unsicheres Abtasten und Stottern.

Als die Gelehrte Estnische Gesellscheft (1838-1950) über das estnische Nationalepos debattierte und damit die Grundlagen für ''Kalevipoeg'' schuf, geschah es auf Deutsch. Das Epos, zusammengestellt von Dr. Friedrich Reinhold Kreutzwald, war jedoch die nationalorientierte idealistische Vision Estlands.

Äusserst rührend ist in diesem Zusammenhang der Briefwechsel zwischen Dr. Kreutzwald und der ersten estnischen Dichterin Lydia Koidula - im Privatleben Lydia Emilie Florentine Jannsen. Über theorethische Fragen schreiben beide in strebsamer estnischen Sprache, selbst neue Wörter bildend, um ihre literarische Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen.

Wenn sie aber von Gefühlen ergriffen werden, wenn sie einander beichten wollen, wenn es um Andeutungen und Halbtönen geht, wechseln beide selbstverständlich auf Deutsch über. Estnisch war noch halbreif, auf estnisch konnte man entweder bejahen oder verneinen.

Dieser Sachverhalt wiederspiegelt zugleich Charaktere als auch Kulturgeschichte.

Er beinhaltet auch eine Parabel der Differenzierung und Integration.

In Entstehungsperioden muss man das Eigene suchen und Unterschiede akzentieren, - auch der Unterschiede wegen. Das ist ein schmerzhaftes Abreissen der Nabelschnur. Aber anders kann man nicht geboren werden. Auf der gleichen Art und Weise wurden auch die Finnen, Polen, Ungarn, Tschechen, Slovaken, Rumänen, Serben, Kroaten, Griechen usw. von ihrer Nationalität bewusst, - obwohl sie keine Nationalstaaten bildeten.

Darauf folgt unsere Zeit der neuen Integration, eine Zeit für erneute Verflechtungen. In der heutigen Sprache ausgedrückt - für Zusammenarbeit und Ideenaustausch.

Ist denn auch nicht die deutsch - estnische akademische Woche ein Beispiel solcher Zusammenarbeit? - Alle zehn Fakultäten unserer Universität haben die führenden Wissenschaftler ihrer Fachrichtung aus Deutschland hierher eingeladen. Herzlich willkommen und viel Erfolg! Eine starke Integration und Zusammenarbeit zwischen zwei Staaten bedeuten eine gemeinsame Arbeit und Kontakte auf allen Ebenen. Sie bedeuten auch Aussenpolitik, aber vor allem akademische Kontakte. Heute sind wir Zeugen von Geburt der Academica, einer Veranstaltung, deren Idee vollkommen auf der Hand liegt - der kulturelle Austausch. Er ist wie ein ehrlicher Handelsvertrag, der beide Seiten bereichern soll. Diese Woche wird die Professoren und Studenten Estlands, aber auch Professoren Deutschlands, also sowohl die estnische als auch die deutsche Wissenschaft, letztendlich die gesamte estnische und deutsche Kultur bereichern.

Den Handelsvertrag ansprechend kommt mir gleich die Hanse in den Sinn, eines der besten historischen Beispiele einer gesamteuropäischer Zusammenarbeit, die jahrhundertelang funktioniert hat. Dieses Beispiel könnte auch uns ermutigen, unsere Zusammenarbeit fortzusetzen. Sowohl im kulturellen, wirtschaftlichen als auch politischen Bereich.

Die Universität Tartu-Dorpat hat schon jahrhundertelang in vielen Bereichen mit deutschen Universitäten zusammengearbeitet. Eigentlich ist das nur die halbe Wahrheit. Die Universität Tartu-Dorpat War doch selbst eine deutsche Universität. Die heute beginnende Woche ist die Bestätigung einer alten Weisheit: Kulturbeziehungen sind zeitlos. Man wollte sie verbieten, man konnte sie nicht erdrosseln.

Schon am ersten Tag fasse ich den Mut zu wünschen, dass die deutsch- estnische akademische Woche eine Tradition gründen könnte. Ich würde es begrüssen, wenn solche Wochen auch in Deutschland veranstaltet werden. Also ist unsere heutige Academica eine Zusammenfassung und zugleich ein neuer Anfang.

Persönlich möchte ich den verehrten deutschen Professoren folgendes empfehlen: besuchen Sie die Manuskriptenabteilung der Universitätsbibliothek. Ich versichere Ihnen, dass Ihnen manche Überraschungen zuteil werden. Wissenschatlichen Beziehungen sind die für immer geöffnete Tür zu wissenschafflichen Entdeckungen!

Eine erfolgreiche Academica-Woche für alle in unserer alten lieben Academia Gustaviana!

 

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