Reden
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Die Rede von Seiner Exzellenz dem Staatspäsidenten der Republik Estland Herrn Lennart Meri anläßlich des Außenpolitischen Kongresses der CSU am 13. Juli 1996
13.07.1996

Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren,

Gestatten Sie mir zuerst, sich bei der Christlich-Sozialen Union und ihrem Vorsitzenden, Herrn Dr. Theo Waigel, recht herzlich für die Gelegenheit zu bedanken, daß Estland Sie heute zum Thema ''Gemeinsame Interessen: Freiheit, Frieden, Fortschritt'' anspricht. So lautet der Titel dieses Jahreskongresses, so heißt die Achse der Tagung. Damit ist bereits die Frage: ''Wo liegen Europas Grenzen?'' beantwortet worden.

Meine Anwesenheit beweist, daß diese Grenzen auch Estland einschließen. Als ich im Frühjahr Ihre ehrenvolle Einladung erhielt, hieß der Titel meines Vortrages ''Estland und die Reformperspektiven Mittel- und Osteuropas''.

Ich kann es mir vorstellen, daß von München aus scheint Estland ein kaltes und exotisches Land zu sein, fast wie Ultima Thule für Pytheas im 3. Jh. vor Christi oder der Nordpol für Fridjof Nansen im 20. Jh. nach Christi. Ich möchte Sie beruhigen. Estland befindet sich in der Tat etwas weiter als Schleswig-Holstein, aber das ist wohl alles. Estland hat auch einen anderen Namen: Maarjamaa, das Land der Heiligen Jungfrau Maria. Der Name ''Estland'' stammt von Tacitus, aus dem letzten Kapitel seiner ''Germania'', also vom Jahre 98 nach Christi, wie ich in der Schule gelernt habe. Der Name ''Marienland'' stammt vom Papst, Innocentius dem Dritten, vom Jahre 1215, und ich habe die Freude gehabt mit und in dem Namen der Heiligen Jungfrau Maria den Papst Johannes Paulus bei seinem Estland-Besuch grüßen zu dürfen.

Ein Bindeglied zwischen München und Estland könnte vielleicht Thomas Mann sein, der in München seine ''Buddenbrooks'' vollendet hat, etwa zur selben Zeit, als Hitlers ''Mein Kampf'' in Landsberg zur Welt kam. Gewiß war Thomas Mann ein Lübecker, und Lübeck ist Mutterstadt von Tallinn, der Hauptstadt Estlands. Auf deutsch ist Tallinns Name Reval; unsere Unistadt Tartu heißt im Deutschen Dorpat, und wenn Sie Ihren Stadtplan genauer studieren, entdecken Sie vielleicht mit Überraschung, daß diese zwei estnische Städte auch in München als nebeneinander liegende Straßen vertreten sind. Wir könnten über das nebelige Albion reden, nicht aber über das nebelige, ferne Estland. In Estland ist alles klar, einfach und es liegt so nah, daß man es beinahe anfassen könnte. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich dazufüge, daß das erste Schiller-Denkmal nicht in Bayern, sondern in Estland errichtet wurde. Mit diesen Anmerkungen wollte ich Ihr Unbehagen vor der Ferne zerstreuen und gleichzeitig Dr. Theo Waigels Vision von Europa als Kontinent mit konzentrischen Kreisen in Erinnerung rufen. Zu unterschiedlichen Zeiten haben diese Kreise wie wandelnde Ellipsen ausgesehen. Für Herodotos galt der Don als Ostgrenze Europas und Bayern samt Estland als Land der Barbaren, wo man unverständliche Sprachen hörte. An der Schwelle des 21. Jh.-s ist Europa überall, wo der europäische Wille, die europäische Wertegemeinschaft und die immer tiefer werdende europäische Diversität herrscht, wodurch es sich auf eine so angenehme Weise von anderen Kontinenten unterscheidet. Genauer gesagt: das Ende unseres Jahrhunderts wird von zwei Tendenzen charakterisiert, die scheinbar als Gegensätze zueinander stehen, in der Tat aber dem Gegensatz zwischen der Mutter und dem Vater einer harmonischen Familie gleichkommen. Von einer Seite sehen wir eine schnelle Angleichung und Stabilisierung nicht nur in der Technologie, sondern auch im Rechtswesen, in der Gesetzgebung, Sozialfürsorge, Produktion und im Handel. Von anderer Seite aber ist unsere Zeit durch die Vertiefung der Diversität, durch den Ausbau der regionalen Eigenart und durch die Wiederentdeckung sowie Entfaltung der kulturellen Eigenidentität geprägt.

Diese Tendenzen stehen miteinander im keinen Konflikt. Gerade im Gegenteil: Diversität gilt als Voraussetzung beliebiger Kreativität. Den schnellen Aufstieg Europas seit Karl dem Großen und insbesondere in unserem Jahrhundert verdanken wir der Wechselwirkung von diesen zwei Tendenzen. Eben hier steckt die Kraft, die Europa zusammenhält wie das Sonnensystem oder die Erde und den Mond oder ein Atom: Zentrifugal- und Zentripetalkräfte stellen ein Gleichgewicht dar. Im heutigen Deutschland gibt es mehr deutsche Lande als es dem Fürst Bismarck lieb gewesen wäre.

2.

Also ist Europa ein dynamisches sowie ausgeglichenes, ein offenes sowie - kraft seiner Merkmale - begrenztes System. Genauer gesagt ist es ein Programm, ein Prozess der Selbstbehauptung. Umzingeln Sie es mit der Mauer, und Europa wird umkommen wie ein Greis im behaglichen Altenheim. Bauen Sie ihr aber gar keine Mauer, verblutet es wie Sarajevo. Der Schlüssel für das Bestehen Europas liegt in seinem ununterbrochenen Wandel. Entsinnen Sie sich der Alice vom Wunderland: Um auf den Beinen zu bleiben, muß man schnell laufen. Der Mauerfall in Berlin hat sich als derart wichtiges Symbol erwiesen, daß er die Illusion vom tausendjährigen Reich des Friedens geschaffen hat. In der Tat aber hat er die Identitätskrise sowie Sicherheitsproblematik Europas zutage gebracht, die erst jetzt, nach erheblicher Verspätung, im Bewußtsein der Europäer wahrgenommen worden ist. Der Grund liegt gewiß an der Sowjetunion, an heutigem Rußland!

Europa sowie Amerika haben sich vorgegaukelt, daß der zusammengebrochene totalitäre Stalin-Breschnew-Kommunismus spontan durch die demokratische Staatsordnung und den auf parlamentarischen Prinzipien beruhenden Rechtsstaat ersetzt wird; daß die unermeßlichen Naturschätze Rußlands von der Kasernenwirtschaft entfesselt werden und mittels freien Marktes zum Bestandteil der Weltwirtschaft werden, dies wiederum eine wirtschaftliche Wiedergeburt Rußlands gewährleistet und eine Umorientierung der aggressiven Warschau-Pakt-Außenpolitik von Konfrontation auf eine friedliche Zusammenarbeit zustandebringt.

Kurz und gut, der Tief wird durch den sonnigen Hoch ersetzt etwa wie in Goethes Osternspaziergang. Dasselbe hat auch Estland gehofft und diese Hoffnung noch nicht aufgegeben, trotz der Gegebenheit, daß unsere Kenntnisse über die Geschichte, Wirtschaft und dominierende Denkweise Rußlands genug Gründe geliefert hatten, einen eher langwierigen und mühsamen Prozeß zu vermuten: Mehrere schußartig eingetroffene Witterungswandel, mindestens über eine Generation dauernde Übergangszeit, in der die tragischen Rückschläge nicht auszuschließen sind.

Ideale Lage Estlands an der Ostsee, die unumkehrbar zur Binnensee der EU wird, verpflichtet Estland bereits heute und noch stärker in der Zukunft seine Kenntnisse und Vorteile auf eine Art und Weise einzusetzen, die den Kooperationsinteressen Europas und Rußlands dienlich wären und somit die Stabilität in Nordeuropa befestigen könnten.

Dieses Ziel zu erreichen fällt heute schwieriger als vor fünf Jahren. Es ist erreichbar, setzt aber voraus, daß der Zeitfaktor imperativ berücksichtigt wird und daß Estland mit seinen beiden südlichen Nachbarn schnellstens in die EU sowie in die Sicherheitsstrukturen Europas integriert werden.

Der Grund, weshalb der Zeitfaktor heute im Vordergrund steht, ist Ihnen wohl bekannt. Die Dumawahl in Rußland hat den Kommunisten eine Mehrheit im Parlament gebracht. Diese Duma hat mit erheblichem Überschuß der Stimmen die Auflösung von Sowjetunion für gesetzwidrig erklärt. Die russischen Außenpolitiker haben sich die Wiederherstellung der Sowjetunion und Ihrer Machtsphären zum Ziel gemacht. Von dem geschrumpften Bruttosozialprodukt Rußlands hat das militärisch-industrielle Komplex, direkt oder indirekt, bereits 65% in Anspruch genommen. Brutale Kriegsführung gegen das Selbstbestimmungsrecht der Tschetschenen wird mit allen tragischen Folgen fortgesetzt, ungeachtet vieler Friedensinitiativen. Es besteht ernste Gefahr, daß es für Europa und Amerika immer schwieriger fallen wird, die Türen der Kooperationsbereitschaft mit Rußland offen zu halten. Von anderer Seite ist man aber auch der Gefahr ausgesetzt, der politischen Rhethorik Rußlands nachzugeben und somit die Grundsätze der EU und der NATO zu vertuschen, zwar mit unheilvollen Folgen.

In diesem Hintergrund ist die Gewährleistung der Sicherheit im Ostseeraum eine Aufgabe von erstrangiger Bedeutung, die wir im Fall Estlands in folgenden fünf Punkten zusammenfassen könnten:
Erstens, ich bin fest überzeugt, daß die Miteinbeziehung der Baltischen Staaten in die Erweiterung der NATO mit der immanenten Interessenslage Deutschlands übereinstimmt. Das Ende des Kalten Krieges hat den geopolitischen Boden wiederhergestellt, von dem sich die beiden Weltkriege ableiten ließen. Die erweiterte NATO wäre imstande, Deutschland vor den Verwicklungen zu bewahren, die nicht nur für seine Nachbarn, sondern auch für es selbst gefährlich sind.

Zweitens, dasselbe gilt auch für die EU. Die Europäische Union und die NATO ergänzen und verstärken einander gegenseitig. Trotz der Behauptungen einiger West-Politiker hat man aber in Deutschland verstanden, daß eine die andere nicht ersetzen kann.

Drittens, Estland weiß die Rolle Deutschlands bei der Wiederherstellung seiner Freiheit wohl zu schätzen. Wir sind überzeugt, daß Deutschland auf dem richtigen Weg ist und diesen Weg auch künftig für richtig hält. Ein starkes Deutschland in einer starken NATO entspricht den lebendigen Interessen Estlands und ganz Europas.

Viertens, wir richten nunmehr immer öfter unseren Blick auf Deutschland, da wir unsere Vorschläge an Europa mit dem Willen verbinden, keineswegs eine Mauer, sondern eine Brücke zwischen Europa und Rußland zu sein. Wir sind zuversichtlich, daß eben die kreative Zusammenarbeit mit Deutschland die beste Garantie gegen eine Neuteilung Europas ist.

Fünftens, immer wieder pflegt man zu sagen, es darf in Europa keine Trennungslinien mehr geben. Doch scheint es mir, daß dabei eine bedeutende Tatsache außer Acht gelassen wird, und zwar: Europa ist ein Spannungsfeld der Konflikte und Kriege nicht dann, wenn die Staaten und die Entscheidungsträger ihre Prioritäten klar zum Ausdruck bringen, sondern dann, wenn sie dies nicht tun. Wir hoffen, daß im gegenwärtigen Europa eben Deutschland derjenige Staat ist, der jedem klarmacht: Europa als Ganzes kann keine Sicherheit genießen, wenn einem Teil von Ihm die Sicherheit erspart bleibt.

 

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