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Vortrag von Lennart Meri beim Übersee-Club Hamburg am 30. September 1996
30.09.1996

Die Ostsee als europäisches Binnenmeer: Vorteile und Voraussetzungen


Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Mitglieder und Gäste des Übersee-Clubs zu Hamburg!

Ich bin zwar erstmals hier bei Ihnen im Hamburger Übersee-Club, aber ich fühle mich nicht fremd bei Ihnen. Das hat Gründe, denn ich weib, wo ich bin, in Deutschland, vor allem aber in einer Hansestadt und damit an einem Ort, der mit der Geschichte meiner Stadt und meines Landes eng verbunden ist. Ich spreche vor Unternehmern und Kaufleuten und damit vor einem Personenkreis, dessen Vorfahren vor siebenhundert Jahren nach Reval zogen, es aufbauen halfen, ihre Kultur und ihre Fertigkeiten, insbesondere ihre Sprache mitbrachten und Reval zur Hansestadt machten. Diese Vergangenheit wirkt bis heute, noch heute sieht man dem Stadtbild von Reval - wir sprechen im allgemeinen von Tallinn, aber beide Bezeichnungen sind gleichermaben legitim und Teil der Geschichte und Identität unserer Stadt - die alte Verbindung zu Lübeck an. Diese Entstehungsgeschichte, die Verwurzelung in und die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa, das - wie ich hervorheben möchte, - mehr noch ein geistiger und kultureller Raum als ein geographischer Begriff ist, sind für uns identitätsstiftend. Ohne sie gäbe es uns nicht. Ohne sie wären wir aller Wahrscheinlichkeit nach längst von unseren menschenreichen Nachbarn im Osten assimiliert worden, so wie es anderen Teilen der finnougrischen Volksgruppe, der wir zugehören, gegangen ist, in Ingermanland, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, beispielsweise. Damit habe ich bereits den anderen Faktor angesprochen, der für uns schicksalhaft ist: unsere geographische Lage und unsere Nachbarschaft im Osten. Kulturell sind wir durch unsere enge Berührung mit den Deutschen und mit den Schweden in siebenhundert Jahren zu einem Teil Mitteleuropas geworden. Geographisch sind wir sein östlichster Vorposten geblieben. Wir liegen an einer Schnittstelle und was das heibt, das zeigt Ihnen nicht nur die sogenannte grobe Geschichte der Staaten und Völker, sondern auch die ihrer Individuen, die der Menschen. Mein eigener Lebensweg zeigt, was das heibt, an der Schnittstelle zwischen Mittel- und Osteuropa zu leben.

Wenn ein Este nach Hamburg kommt oder ein Hammonienser nach Reval, und wenn die beiden nicht g'rade mit blinden Augen herumlaufen, können sie bereits nach gezählten Stunden feststellen, wie ähnlich die Lebenswelten beider Städte sind, wie bekannt kommt ihnen vor das Zeichensystem der Kultur und die Mentalität der Bürger.

Wenn der Deutsche sich darüber hinaus etwas mehr Mühe gibt und die von Reval etwa 100 Kilometer südwestlich liegende Halbinsel Pucht aufsucht, wird er mit Überraschung wahrnehmen können, dab das erste Schiller-Denkmal der Welt nicht in Marbach am Neckar, auch nicht in Weimar, sondern auf dieser kleinen Ostsee-Halbinsel Estlands errichtet wurde.

Und wenn der Este zum ersten Mal die Kennmelodie des Deutschlandsfunks hört, dann erkennt er darin ein estnisches Volkslied, das mittlerweile als Hymne des Estnischen Denkmalschutzes gesungen wird, und erst danach die Leitmelodie der ''Akademischen Festouvertüre'' von dem in Hamburg geborenen Komponisten Johannes Brahms.

Die Zugehörigkeit zu einem und demselben, seit Jahrtausenden angestammten Kulturraum bietet den Ostseeanrainern ausreichend Stoff für gegenseitige Entdeckungen, geschweige denn die Chance für die Wiederbelebung der Realität, dab man - wie zu Hansezeiten - wieder eine gemeinsame Binnensee hat. Es gibt praktisch nichts, wodurch sich der estnische Ostsee-Wortschatz von dem ''allgemein- europäischen'' unterscheidet - auber der Tatsache, dab dieses Meer im Estnischen die ''Westsee'' heibt. Auch in dieser Hinsicht sind wir gute Schüler von Aristoteles.

Gerade am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Lage an der Ostsee grundsätzlich verändert. Die Deutsche Einheit, die Wiederentstehung der freien Staaten Polen, Litauen, Lettland und Estland, der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Zusammenschlub von Schweden und Finnland mit der Europäischen Union, die Bestrebungen der Baltischen Staaten und Polens, sich in die europäischen Strukturen zu integrieren, Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Baltikum - das sind nur einige grundlegende Ereignisse und Entwicklungen, die dazu beigetragen haben, dab im Ostseeraum eine qualitativ neue politische Situation entstanden ist, die einer kreativen, krückenlosen Interpretation bedarf.

Auf diese raschen Veränderungen war die westliche Welt ungenügend vorbereitet: Man hat im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte zwar ab und zu die Spezialitäten dieses Raums gekostet, sich aber kaum mit den Realitäten befabt. Vielmehr waren die politischen Gemüter der West- und Nordeuropäer von Angola, Chile oder Südafrika erfüllt. ''Das Meer des Friedens'', lautete die offizielle sowjetische Bezeichnung für die Ostsee - ein zynischer Euphemismus im Dienste der Verewigung einer kommunistischen Vorherrschaft auf diesem Meer. In der Tat hieb es, das der östliche Teil der Ostsee zur damaligen Zeit von der Entwicklung in anderen Teilen Europas weitgehend abgetrennt war. ''Im Namen des Friedens'' galt es als unanständig gar daran zu erinnern, dab der litauische Hafen Memel von der Hansestadt Kiel weniger entfernt ist als die Hauptstadt Bayerns.

Die kommunistischen Regime schienen so stabil zu sein, dab sich selbst bedeutende Teile der politischen Systeme in Westeuropa um eine Art von idiologischem Arrangement mit diesen Regimen bemühten. Es galt sogar als schick, jeden Versuch einer Kritik an der sowjetischen Besetzung der ehemals unabhängigen Baltischen Staaten als eine Bedrohung für den Weltfrieden zu bezeichnen. In der sogenannten Perestroika-Zeit galt es als noch schicker, die Freiheitsbemühungen der Balten als etwa eine Gefährdung für den ''Demokratisierungsprozeb'' in der Sowjetunion zu diskreditieren. Der Geist der Gorbimanie hat wesentlich dazu beigetragen, dab das bipolare Grobmachtdenken, das Jalta-Syndrom, auch heutzutage auf die internationalen Beziehungen ausstrahlt.

Im Zeitalter der mediensynchronisierten Dramatisierungen, wo die Presse sich täglich auf der Suche nach Tragödien und Skandalen befindet, hat man völlig vergessen, dab wir im Fall Nordeuropa, Ostseeraum, eine wahre Zukunftsregion ohnegleichen, ein balanciertes, rationelles Wachstumsgebiet auf der Hand haben, wo es weder etnische noch konfessionelle Gegensätze gibt.

Gleichzeitig aber ist diese Region eine wahre Herausforderung, der man nicht mit bloben Sonntagsreden recht werden kann. Daher die Frage nach Voraussetzungen, die ich heute mit Ihrer Hilfe, meine Damen und Herren, zu beantworten versuche. Daher auch die temporale Wahl dieses Auftritts: Es handelt sich um eine Montagsrede.

I

Seitdem die Mauer nicht mehr besteht, hat sich die Brücke wieder in unserem Wortschatz eingenistet. Und dies insbesondere im Fall Baltikums in einem so starken Mabe und so häufig, dab es meines Erachtens einer genaueren Beobachtung bedarf, was darunter und darüber gemeint und gedacht wird. Ist es eine Modernisierung des Clemenceau-Begriffes ''cordon sanitaire'' aus der Zeit unmittelbar nach dem I. Weltkriege? Oder ein Versuch, eine auf die Dauer sowieso nicht einhaltbare Neutralität vorzugaukeln und etwa eine Grauzone zu institutionalisieren ? Soll der Übergang kostenlos sein oder wird da, wohl oder übel, ein Brückengeld einkassiert?

Als ich vorhin das Grobmachtdenken, den in den Köpfen fortbestehenden Jalta-Geist erwähnte, so geschah dies nicht aus der Neigung zum Fechten mit Geistern. Das können wir ruhig den Dämonologen überlassen. Wir leben heute in einer Welt der realen Gefahren. Das Gefälle zwischen Ost und West, das die Jalta-Teilung in Europa hinterlassen hat - politisch, wirtschaftlich, sozial, ökologisch - birgt unabsehbare Risiken, wenn es nicht rasch abgebaut wird. Und in einer Welt, die immer mehr in globalen Abhängigkeiten verstrickt ist, gilt dies noch mehr für die Kluft zwischen Süd und Nord. Eine immer gröbere Zahl von vorwiegend jüngeren Menschen, die in Not und politischer Instabilität leben, und ein kleinerer - und älter werdender - Teil der Menschheit, der mit seinen Überflubproblemen nicht zu Rande kommt, das schafft angesichts der modernen Informations- und Kommunikationssysteme Spannungen, die sich fast zwangsläufig mit ideologischem Radikalismus und religiösem Fundamentalismus immer neu bedrohlich mischen müssen.

Innere und äubere Sicherheit sind nicht mehr klar voneinander zu trennen. Neue Bedrohungen jenseits des Militärischen - Völkerwanderungen neuen Typs, ökologische Kriegsführung, Terrorismus und weltweit operierende organisierte Kriminalität, politischer und religiöser Fundamentalismus - haben den klassischen Sicherheitsbegriff untergraben. Anschläge wie sie in Japan, in den USA oder zuletzt in Frankreich verübt worden sind, zeigen die Verwundbarkeit vor allem städtischer Agglomerationen und auf High-Tech basierender Infrastrukturen, geschweige denn der psychologischen Bedeutung eines traditionellen Sicherheitsgefühls.

All diese Gefährdungen zeigen eines gemeinsam: Kein Staat dieser Welt ist auf sich allein gestellt vor ihnen sicher.

Die Herausforderungen gehen uns alle an. Nur gemeinsam können wir sie bewältigen. Deshalb ist der europäische Zusammenschluß für Estland lebenswichtig, und deshalb bleibt die Atlantische Allianz für alle Partner, gleich ob im Status eines Vollmitgliedes oder eines Aspiranten, existentiell notwendig.

Die Entwicklung, die die Atlantische Allianz während der letzten fünf Jahre genommen hat, hat dann auch die Behauptung, das Bündnis sei lediglich ein Instrument des Kalten Krieges gewesen und mit dessen Ende obsolet, eindrucksvoll widerlegt.

''Die NATO,'' ich zitiere Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, ''hat sich ganz im Gegenteil als ein höchst lebendiger, moderner und anpassungsfähiger Organismus erwiesen, der insbesondere auf die Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südeuropas beträchtliche Anziehungkraft ausübt. In ihrer Rolle als gesamteuropäischer Stabilitätsanker und als einzig verläblicher Garant der Sicherheit ist sie neu bestärkt.'' (Zitatende)

II

Meine Damen und Herren!

Wie kaum ein anderes Land haben die Baltischen Staaten mit ihrer Geographie und mit den real existierenden Vorurteilen seiner groben Nachbarn zu kämpfen. Die Ostseestaaten befinden sich zwischen Ost und West, die wir als zwei Mühlsteine empfinden. Und, meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern: Wir werden uns wehren, wenn es wieder mal zum Mahlen kommen sollte.

Dies ist auch die Frage, die allen unseren Bestrebungen übergeordnet werden mub und von der unsere Zukunft in grobem Mabe abhängig ist: Wie wird der Westen sich gegenüber Rubland verhalten? Wie weitsichtig werden die Schlüsselentscheidungen, die demnächst in Europa getroffen werden müssen, aussehen?

Bisherige Entwicklung läbt sowohl Ermutigendes als auch Bedauerliches hervorheben. Nach dem Zusammenbruch des Totalitarismus hat Europa seine Hoffnung auf die falsche Karte einer schnellen demokratischen und marktwirtschaftlichen Umgestaltung gesetzt. Man war des Willens zu übersehen, dab die europäische Staatsordnung ein Ergebnis einer langjährigen Entwicklung war und ihrerzeit die Geburtswehen nicht umgehen konnte. Die Demokratie braucht Traditionen und ist in diesem Sinne eher eine Generationenfrage. In Rubland aber fehlen diese Traditionen, man ist in einer ganz anderen Welt aufgewachsen und davon, will man es oder nicht, beeinflubt worden. Im Fall Rublands können wir auch nicht von der ''Unterbrechung'' der Demokratie sprechen. Eine Demokratie, eine bürgerliche Gesellschaft, auch den Status eines Menschen als "Bürger", als citizen, hat man, abweichend von meisten anderen ehemaligen Ostblockstaaten, in Rubland nie gekannt. Demzufolge hat man von Anfang an zwei verschiedene Sprachen gesprochen und beiderseitige Enttäuschungen sind nicht ausgeblieben. Heute hat Rubland - ebenso wie Europa - mit schwerer Identitätskrise zu kämpfen. Der Verlust des eigenen Gesichts ist den Russen schwer zu verkraften gewesen. Vieles deutet darauf hin, dab es nicht in neuer Qualität beim Entstehen ist, sondern dab man Grund genug hat, von der Rückkehr zu Altgewohntem zu sprechen. Die Welt der Mächtigen wird sich wieder polarisieren und die Diskussionen darüber, ob wir nun einen Kalten Krieg oder Kalten Frieden haben, erinnern uns ein bibchen an die pseudophilosophischen Betrachtungen über das halbvolle bzw. halbleere Glas. Diese Begriffe sind irreführend und dienen eigentlich nur der Selbsttäuschung.

Ich glaube, dab diese anfängliche Selbsttäuschung in Europa immer eindeutiger eingesehen wird und dab man nach einer neuen Basis Ausschau hält, worauf die Beziehungen zu Rubland produktiver aufgebaut werden könnten. Unter dieser Ungewibheit des Westens haben natürlich vorallerdingen die Baltischen Staaten zu leiden, denn das Verhalten Europas uns gegenüber hängt in grobem Mabe von dem Stellenwert Rublands ab. Wie ernst sind die Bedrohungen Moskaus, der Erweiterung der westlichen Sicherheitsstrukturen notfalls mit militärischer Kraft zu entgegnen, einzuschätzen? Darf man mit diesem Feuer spielend umgehen, oder sollte man, die virtuellen ''Gemeininteressen'' vor Augen haltend, die verlangten Opfer bringen, die im Extremfall den Verlust der Unabhängigkeit des Baltikums bedeuten könnten?

Kurz gefragt: Kann der Westen, darunter auch Deutschland, sich leisten, das Baltikum das zweite Mal zu verkaufen? Kompromisse hat man immer gemacht und sie werden auch künftig von der Politik kaum zu trennen sein. Aber eine demokratische Gesellschaft mub die Grenzen der Kompromibbereitschaft kennen und eindeutig definieren. Dies ist eine urwichtige Frage und sollte uns alle, sowohl im Ost als auch im West, ernsthaft beschäftigen. Alles läbt sich von diesem festen Boden ableiten und alles ist darauf zurückzuführen. Worauf stützt sich aber die europäische Entwicklung, was sind die Ziele, die es wert wären, als Ideale bezeichnet zu werden und die uns bei der Lösung der heute vor uns stehenden lebenswichtigen Fragen beiseite stehen würden? Man mub heute leider feststellen, dab so ein ''roter Faden'' in Europa zur Zeit fehlt. Wir sind Zeugen von gewaltigen Umgestaltungen und atemberaubender Geschwindigkeit des Fortschreitens geworden, aber die Entwicklung ist über den Kopf gewachsen. Man reagiert nur auf Ereignisse, statt zielbewubt die Zukunft zu gestalten. Tagespolitische, stark mediensynchronisierte Erwägungen im Geiste einer Verharmlosung der Gefahren helfen uns Balten nicht weiter. Auch wir brauchen Klarheit, diesen ''roten Faden'', der uns helfen würde, die Ziele zu definieren und die richtigen Mittel zu wählen.

III

Die Hoffnung, vom Westen mit offenen Armen aufgenommen zu werden, erwies sich für uns Balten als falsch. Sowohl in Bezug auf die NATO als auch auf die EU zeichnet sich immer deutlicher ab, dab beide Vertragssysteme uns - anders als anderen Staaten wie beispielsweise Polen - für einen Beitritt als gleichberechtigte Vollmitglieder auf absehbare Zeit nicht offen stehen. Das gilt insbesondere für die NATO, an deren Mitgliedschaft uns besonders viel liegt.

Aber nicht nur dies schafft uns Probleme. Zusätzliche haben wir aus einer begrenzten NATO- Erweiterung zu befürchten, die uns ausgrenzt. Die Öffnung für neue Mitglieder wird in der Erweiterungsstudie der NATO zwar ausdrücklich als ein Mittel zu dem Zweck definiert, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unter Einschlub und Beteiligung Rußlands zu schaffen, doch begründet Moskaus Haltung zu dieser Erweiterung gröbte Zweifel daran, dab die Erweiterung der NATO im Konsens mit Rußland möglich ist, also zum genannten Ziel einer gesamteuropäischen Ordnung führt. Es erscheint wahrscheinlicher, dab erhöhte Spannungen mit Rußland die Folge sind, wobei dann nur die Länder geschützt sind, die in die NATO aufgenommen werden, nicht diejenigen, die ausgegrenzt bleiben. Für sie erhöht sich vielmehr die Gefahr, Opfer einer neuen Ost-West- Konfrontation zu werden. Um es ganz unverblümt zu sagen: Die gröbte Gefahr, in die Estland geraten könnte, entstünde dann, wenn die NATO - ergänzt durch das Verhalten der EU - den Eindruck erwecken würde, als respektiere sie bei einer Erweiterung die ehemaligen Grenzen der Sowjetunion als die einer besonderen Einflubsphäre Rußlands, also als das, was man in Moskau ''nahes Ausland'' nennt. Das würde uns an das geheime Zusatzabkommen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 erinnern, in dem die Interessensphären zwischen Berlin und Moskau ''im Falle einer territorial-politischen Umgestaltung'' wie es damals diplomatisch umschreibend hieb, festgelegt und die Baltischen Staaten der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen wurden - mit dem von mir geschilderten und persönlich erlittenen Konsequenzen. Sie werden verstehen, dab ich mich einer Wiederholung einer solchen Entwicklung - also einer faktischen Wiedereinführung von Interessensphären zu unseren Lasten - mit aller Entschiedenheit widersetzen werde. Dazu werde ich mich notfalls an jedes NATO-Land einzeln wenden, um es um Unterstützung zu bitten. Ich bin zuversichtlich, dab ich zumindest bei den NATO-Mitgliedern Unterstützung finden werde, die damals Objekt des Handelns der groben Mächte wurden - und davon gibt es ja einige.

Wenn ich das so deutlich sage, meine Damen und Herren, geschieht es um Ihr Verständnis für unsere Sorgen und Nöte zu wecken. Sie alle sind Persönlichkeiten mit Einflub und Kontakten. Ich weib, dab viele Politiker im westlichen Europa diese Problematik nicht in ihrer ganzen Schärfe sehen. Ich bitte Sie, nutzen Sie das Gespräch und den Kontakt mit ihnen dazu, ihnen deutlich zu machen, welche Bedeutung die Sicherheit der Baltischen Staaten für die politische und die moralische Integrität Europas, insbesondere aber seiner demokratischen Stammlande hat.

IV

Ich bin fest überzeugt, dab die Miteinbeziehung der Baltischen Staaten in die Erweiterung der NATO mit der immanenten Interessenslage Deutschlands übereinstimmt. Das Ende des Kalten Krieges hat den geopolitischen Boden wiederhergestellt, von dem sich die beiden Weltkriege ableiten lieben. Die erweiterte NATO wäre imstande, Deutschland vor den Verwicklungen zu bewahren, die nicht nur für seine Nachbarn, sondern auch für Deutschland selbst gefährlich sind. Wenn Deutschland einen Sicherheitsmangel in Europa entstehen läbt, wird es davon als erster betroffen sein. Wenn Deutschland tatsächlich für die Sicherheit interessiert ist, sorgt es für die Mechanismen, die auch zum Beispiel Portugal in die Lage setzen, sich an der Schaffung der Sicherheit im Ostseeraum zu beteiligen.

Hierbei ist die Rolle von Dänemark als mögliches Vorbild besonders hervorzuheben. Während Dänemarks Aktivitäten auf die Vorbeugung der Konflikte ausgerichtet sind, ist die Einstellung manch anderer Staaten nach wie vor im Banne des Schockdenkens der Nachkriegszeiten. Der im Laufe der Geschichte geschärfte Sicherheitssinn der Dänen ermöglicht es ihnen, die möglichen fatalen Folgen eines Sicherheitsmangels ständig im Visier zu halten. Estland weib die Rolle Deutschlands bei der Wiederherstellung seiner Freiheit wohl zu schätzen. Wir sind überzeugt, dab Deutschland auf dem richtigen Weg ist und diesen Weg auch künftig für richtig hält. Ein starkes Deutschland in einer starken NATO entspricht den Interessen Estlands und ganz Europas.

Da die Grenze des Abendlandes Estland sowie Deutschland auf derselben Seite beläbt, erwarten wir von den Deutschen eine wesentlich aktivere Rolle bei der Gestaltung der baltischen Verhältnisse zu der EU sowie zu Rußland. Es mub auf allen Ebenen klargemacht werden: Estland hat längst ein positives Ostprogramm entwickelt. Den Grenzvertrag mit Rußland zu unterzeichnen wären wir sofort bereit, besser gleich heute abend; die russische Bevölkerung fühlt sich in Estland ausgezeichnet und hat somit die Hoffnungen zunichte gemacht, als politisches Werkzeug manipulierbar zu sein.

Ich möchte nicht den kleinsten Eindruck vermitteln, als seien die estnischen NATO-Bestrebungen mit einem Angstgefühl verbunden. Ich weib auch, dab Sie mir es nicht glauben wollen. Der vor kurzem verabschiedete Moskauer Duma-Beschlub über die Wiederherstellung Grobrublands in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion bietet genug Stoff mindestens zum Nachdenken. Ebenso die wiederholten russischen Bestätigungen, die Baltischen Staaten seien 1940 freiwillig der Sowjetunion beigetreten - zuletzt aus dem Munde eines Jelzin-Sprechers vor einigen Tagen. Fürchtet man wirklich, dab der Westen es vergessen hat, wie frei diese Mitgliedschaft eigentlich war?

In der Tat klopft Estland intensiv auf die NATO-Tür, weil der Ausgangspunkt für die Existenz dieser Allianz nicht in der Welt der Geopolitik, sondern in der der Prinzipien liegt.

Immer wieder pflegt man zu sagen, es dürfte in Europa keine Trennungslinien mehr geben. Doch scheint es mir, dab dabei eine bedeutende Tatsache auber Acht gelassen wird, und zwar: Europa ist ein Spannungsfeld der Konflikte und Kriege nicht dann, wenn Staaten und Entscheidungsträger ihre Prioritäten klar zum Ausdruck bringen, sondern dann, wenn sie dies nicht tun.

Die Erweiterungsmodalität, die sich heute anbahnt, ist ein Beweis dafür, dab die Trennlinien in Europa weiterexistieren. Wenn das der Fall ist, ist die neue NATO vom Geist des Kalten Krieges geprägt. Als Europäer bin ich besorgt über die Glaubwürdigkeit Europas. Es geht nicht so sehr um die Sonder- Charta mit Rußland. Vielmehr geht es um die politische GLEICHBEHANDLUNG aller Beitrittskandidaten. Wir hoffen, dab im gegenwärtigen Europa eben Deutschland derjenige Staat ist, der jedem klarmacht: Europa als Ganzes kann keine Sicherheit genieben, wenn einem Teil von dem Ganzen die Sicherheit erspart bleibt.

V

Extrempolitische Kräfte in der russischen Regierung sprechen heute über eine Wiederherstellung der russischen Dominanz auf dem Territorium des ehemaligen Sowjetimperiums.

Wenn der Westen in dieser Situation politische Schritte unternimmt und eine Rhetorik verwendet, die angesichts ihrer Harmlosigkeit als nachgebende Signale an Moskau verstanden werden können, so aktiviert er die linkspopulistischen Kräfte. Ich warne den Westen davor, zu behaupten, als könnte dieses Vakuum unausgefüllt bleiben. Zum Verlierer wird der Westen selbst. Denn je weniger Stabilität in Mitteleuropa, desto weniger wird es sie geben im Westen, desto kleiner wird der Westen werden.

Wir haben in den letzten Jahren leider mehrmals einen Widerspruch erleben müssen, der uns sehr nachdenklich stimmen sollte: Einerseits gibt es keine vernünftige Alternative für eine wirklich konsequente, rasche Reformpolitik, andererseits kann aber keine echte, den Populismus vermeidende Reformregierung wirklich populär sein und scheitert bei den Wahlen. Bei der Aktzeptanz aller Argumentationen, wage ich mich immerhin zu fragen: Liegt es doch nicht auch an der lauwarmen Haltung des Westens gegenüber der europäischen Identität selbst? Liegt es auch nicht an der Verantwortungslosigkeit und am mangelnden Willen, infolge dessen wir immer wieder eine künstliche Verlängerung einer postkommunistischen Agonie wahrnehmen müssen? Wie lange noch toleriert der Westen, dab ein Staat unter dem Vorwand seiner ''innenpolitischen Lage'' Schritte unternimmt, die eindeutig der Europäischen Sicherheit zu Lasten kommen?

VI

Meine Damen und Herren,

eine staatliche Sicherheitspolitik, insbesondere, wenn sie sich globale Wirkungen zum Ziel gemacht hat, ist die teuerste Art von allen denkbaren Politika. In demokratischen Staaten existiert aber - je nach dem - eine Grenze, deren Überschreitung von den Steuerzahlern nicht mehr wahrgenommen wird und die politische Gesundheit der Regierung gefährden könnte. So ist in unserem modernen Europa die Miteinbeziehung der Privatinitiative, vor allem des Privatkapitals in die Sicherheitspolitik aktueller denn je zuvor. Der Schutz der eigenen Investitionen im Ausland wird dann zu einem selbstverständlichen Bestandteil der staatlichen ''Innenpolitik'', dies wiederum ist durchaus zumutbar als Schutz des eigenen Steuerzahlers und Leistungträgers. In diesem Zusammenhang versteht sich auch der Cleveland-Aufruf von US-Präsidenten Clinton an die amerikanischen Geschäftsleute im November 1994:'' Investiert im Baltikum!'' Schon haben die Amerikaner signalisiert, dab sie dies gerne machen würden, jedoch auf eine zuverlässige Vermittlung und effiziente Kooperation mit einem Partner im westlichen Teil Europas angewiesen sind. Gemeint war Deutschland.

Meines Erachtens bietet sich hier eine einmalige Chance an, den Tendenzen eines sich bemerkbar machenden amerikanischen Isolationismus entegenzuwirken. Dieser Isolationismus ist in einem starken Mabe von dem europäischen Egoismus bedingt, der darauf eingestellt ist, Vorteile nur zu genieben und die Bürge der Stabilität den Amerikanern zu überlassen. Man hat beinahe vergessen, dab eine wahre Stabilität nur dann zu bewerkstelligen ist, wenn zwischen den Rechten und den Pflichten ein Gleichgewicht besteht.

Es wäre sinn- und perspektivvoll, wenn diese Chance von uns allen richtig benutzt werden könnte und wenn auf diesem Wege eine qualitativ neue, auf festen Verbindungen und gegenseitigen Verantwortungen beruhende transatlantisch-hanseatische Achse entstünde, deren Ziel eine organische, produktive Zugehörigkeit Estlands zu dem westlichen Wirtschaftssystem ist.

Die Frage eines solchen Zusammenschlusses, in dem auf Deutschland eine Schlüsselfunktion zukommt, hat aber auch einen anderen, weitaus globarelen Aspekt, der mit dem Zusammenbruch der herkömmlichen euro-atlantischen Illusion verbunden ist. Man hat sich in Europa sowie in Übersee jahrzehntelang mit dem Märchen ernährt, die auf den abendländischen Vorstellungen beruhende Gesellschaftsordnung und die effiziente, hochproduktive Marktwirtschaft seien Zwillingsbrüder. Dieser illusionerfüllter Fab ist umgekippt worden. Das ist eine philosophische Feststellung, die ich zwar gern annehme, wenn man eine philosophische Perspektive von Jahrhunderten vor den Augen hat. Als Politiker jedoch bewege ich mich aber in einer realen Zeit und mub Sie daran erinnern, dab das Beispiel von Stalins Rubland oder Hitlers Deutschland uns bezeugt: es gibt Ausnahmen, wo eine hohe Produktivität auch ohne Kreativität für kurze Zeiten, kurze Spurte durchaus möglich ist. Es geht also nicht nur um die Kapazitäten, sondern vielmehr um die Kreativität, die erst richtig durch Demokratie entfesselt wird. Ebenso entscheidend ist die simple Feststellung, dab zwei demokratische Staaten einander nie angegriffen haben und nie angreifen werden. Demokratie als Quelle der Stabilität, der Kreativität stellt für uns Europäer eine wahre Herausforderung dar.

Zweifellos betrifft diese Herausforderung sowohl die Deutschen als auch die Esten. Es kommt dabei nicht darauf an, die Vergangenheit etwa zu bewältigen oder die Gegenwart von überflüssigen Belastungen zu räumen; es gilt in allem Ernst, die Zukunft gemeinsam zu meistern.

Eben darin besteht ja die Rolle des Ostseeraums in einem zusammenwachsenden Europa: nur die volle Integration dieses Raumes verleiht dem ''Standort Europa'' eine neue Qualität, eine Tragfähigkeit, die auf der Kreativität und Weltoffenheit beruht.

VII

Meine Damen und Herren,

die Wiederherstellung der Selbstverständlichkeiten ist eine Aufgabe der Politik sowie der Diplomatie. Im Fall Estlands kann es nicht anders sein. Estland ist kein ''nahes Ausland'', kein ''near abroad'' für Moskau, sondern es ist ein nahes, integrales Inland für Bonn und Genf, Straßburg und Amsterdam, Luxemburg und Göttingen und - last but not least - für Hamburg. Es geht nicht um die Rückkehr nach Europa, wie manche Journalisten es parolenartig stereotyp zu schildern pflegen: Estland ist seit Jahrhunderten in Europa eingeschriebenes Land, wo just die der Fremdmacht aufgezwungene Isolation die Bedeutung der abendländischen Wertegemeinschaft in den Gemütern des Volkes aufrecht erhalten hat. Es geht heute um die Integration in die Wirtschafts- sowie Sicherheitsstrukturen Europas, die so rasch wie möglich und so behutsam wie nötig erfolgen soll. Ich bin fest überzeugt, daß die EU uns in demselben Maße bedarf, in dem wir sie benötigen.

Doch ohne entsprechende innerstaatliche Entwicklung wären auch unsere nach außen gerichteten Erwartungen umsonst. Für die Baltischen Staaten, die ja am Tische der Mächtigen kaum gehört werden, ist es wichtig, nicht die Aufnahme in die EU bloß zu verlangen oder zu bitten, sondern die Voraussetzungen zu schaffen, daß die Zugehörigkeit zu den Strukturen eines modernen Europas als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden könnte. Das Weißbuch der EU und die Reformen werden bedauerlicherweise zum Teil auch von uns selbst als der Weg in die EU gesehen. In der Tat ist es aber umgekehrt: Sie stellen grundsätzlich, einfach alternativlos den richtigen Entwicklungsweg für das heutige Estland dar, und die eventuelle Mitgliedschaft ist hier selbst eine Nebenerscheinung, allerdings eine erwünschte. Es gibt kein Europa an sich, es gibt ein Europa für uns!

Die Esten sind keineswegs als Rollenträger eines frustrierten Bittstellers oder als potentielle Trittbrettfahrer auf der europäischen Bühne erschienen, sondern als gleichberechtigte, integrale Teilnehmer unseres gemeinsamen Geschehens, als aktive, selbstbewußte Mitgestalter der europäischen Lebenswelt. Ich füge nur ein Beispiel dazu. Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, an die Zeit kurz nach dem Mauerfall in Deutschland. Auf den Straßen von Leipzig ging es mit neuen Parolen los: ''Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu ihr.'' Und die D-Mark kam. Die Esten hatten keinen, an wen sie gleichermaßen hätten appellieren können, weder den Onkel Hans noch die D-Mark. Wir mußten die D-Mark bei uns im Lande selber aufbauen und so haben wir es auch getan - am 20. Juni 1992, übrigens exakt am 44. Geburtstag der Deutschen Mark, die bei uns zwar Eesti kroon, die Estnische Krone heißt, dem Wesen nach aber eindeutig durch die D-Mark definiert ist, mit dem gesetzlich festgelegten Kurs 1:8.

Vor meinem heutigen Publikum brauche ich mich nicht länger auszuführen, daß meine Heimat, Estland, ein lebendiges Beispiel dafür ist, wie heilvoll die Schocktherapie bei Behandlung einer kommunistischen Mißwirtschaft sein kann. Rasche Reformpolitik ohne jedes wenn und aber, Weltoffenheit, Liberalismus und Freihandel im wahren Sinne des Wortes, Privatisierung und äußerst freundliche Steuerpolitik haben Estland seit dem Jahre 1995 im Bezung auf die ausländischen Pro- Kopf-Direktinvestitionen auf den Platz EINS unter den Transformationsländern Europas gebracht.

Die Studien der Europäischen Bank für Wiederaufbau und der IMF sowie - nicht zuletzt - der Deutschen Bank bezeugen, daß Estlands Wirtschaft unter den erwähnten Länder stärkste Wachstumsraten hat. Dies alles wird von der raschen Entwicklung der hochmodernen Infrastrukturen begleitet: Schon heute ist es z.B. von Bonn aus leichter einen Fax nach Reval als nach Rottweil zu schicken.

VIII

Um noch etwas möchte ich sie bitten. Gerade angesichts der dargelegten Probleme kommt der Einbeziehung meines Landes in die vielfältigen Bindungen und Beziehungen, die zwischen den westlichen Ländern gewachsen sind, große, auch politische Bedeutung zu. Wir waren im Westen lange vergessen. Noch heute wissen viele Menschen nicht, wo die baltischen Staaten liegen und wie sie heißen. Deshalb ist es wichtig, daß wir wieder im Bewußtsein des Westens auftauchen, daß wir mitgedacht werden und das Gefühl entsteht: Die gehören dazu. Dazu sind Beziehungen nötig. Sie gestalten den Handel und den Wandel zwischen unseren Ländern zu einem guten Teil. Intensivieren Sie die geschäftlichen Beziehungen, den Warenaustausch, die Produktion. Mein Land hat dafür exzellente Voraussetzungen geschaffen, über die Ihnen die deutsch-estnische Handelskammer in jedem Detail Auskunft geben wird. Anderes muß hinzukommen. Sportveranstaltungen und andere medienwirksame Ereignisse von gesamteuropäischer Bedeutung in Estland sind mir auch aus diesen genannten Gründen wichtig. Helfen Sie, an die vielfältigen geschichtlichen und kulturellen Bindungen wieder anzuknüpfen, die in diesem Jahrhundert mit Gewalt zerissen wurden. Dazu gehört die Volkskunst, etwa die Laienchöre ebenso wie der Theateraustausch und die Zusammenarbeit im akademischen Bereich. Die Universität von Dorpat - Tartu hat eine lange Tradition, die ohne den Beitrag ihrer deutschen Mitglieder nicht denkbar wäre. Ich würde mich freuen, wenn es möglich wäre beispielsweise einen Lehrstuhl für deutsch-baltische Geschichte und Literatur in Dorpat aufzubauen und dabei mit deutschen Universitäten eng zusammenzuwirken. Helfen Sie uns dabei wieder das zu werden, was wir sein wollen und können, wirtschaftlich, kulturell, politisch und bewußtseinsmäßig: ein ganz normaler Bestandteil des freien, demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Europas.

 

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