Reden
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Staatspräsident Lennart Meri anläßlich des Konzerts des Estnischen Staatlichen Sinfonieorchesters in München
19.11.1996

Exzellenzen,
sehr geehrter Herr Dirigent,
meine Damen und Herren im Saal und auf der Bühne!

Über diese Ansprache grübelnd sind mir zwei Gedanken eingefallen. Beide betreffen sowohl die Musik als auch Politik - hier sind sie.

Erstens. Eks keel ole peale muu ka muusika? Aastast 1835 pärineb Eesti kultuuriloos dokumenteeritud lugu maailma keelte iludusvõistlusest. Keeled võistlesid musikaalsuses. Esikoha sai itaalia ja teise koha eesti keel. Niisiis on keelele omane see, mida tavaliselt omistame üksnes kunstile: omadus väljendada tabamatust.

In der Hoffnung, daß Sie mir zustimmen, wiederhole ich folgend das Gesagte auf Deutsch. Ist eine Sprache doch nicht etwa eine Art Musik? Unsere Kulturgeschichte dokumentiert ein Schönheitswettbewerb der Sprachmelodien aus dem Jahre 1835. Den ersten Preis gewann die italienische, den zweiten die estnische Sprache. Also hat die Sprache etwas an sich, was wir gewöhnlich nur der Kunst zusprechen: die Fähigkeit Unfaßbares zu fassen. Jetzt, wo hier im Saal unmittelbar vor der Musik von Peter Tschaikowsky, Jean Sibelius und Ester Mägi auch unsere Sprache erklungen ist, das Estnische, die Gemeinsamkeiten aufweist sowohl mit Deutsch als auch mit Japanisch, können Sie sich selber davon überzeugen.

Meine zweite Überlegung - die Politiker haben ja selten mehr als zwei Gedanken in ihrer Westentasche - ist beinahe unangebracht um sie hier, in diesem schönen Saal vor dem ungeduldigen Orchester und einem hoffentlich genauso ungeduldigen Publikum zu erläutern. Meine zweite Überlegung ist eher eine Vision als ein Gedanke. Als Politiker habe ich auf verschiedenen Sitzungen, Assembleen und Konferenzen mir lange Reden zuhören müssen, in denen man sich als Ziel gesetzt hat, unsere gefährliche Welt in eine harmonische umzugestalten. Die Reden sind lang, denn das Ziel ist kompliziert und das Wort, das mir ebenso lieb ist wie Ton einem Bildhauer oder ein neugeborenes Kind seinen Eltern, das Wort, meine einzige Welt, kann manchmal auf Papier oder auch in der Sprache erstaunlich plump erscheinen. In den stillen Nachtstunden hat mich oft eine Hoffnungslosigkeit erfaßt. Die Hoffnungslosigkeit eines Chirurgen, der eine Gehirnoperation mit einer Drahtzange durchführen muß. Als ich mir heute überlegte, was ich Ihnen zu sagen habe, erschien mir plötzlich als Vision der Saal der UNO- Vollversammlung oder der asketische Saal der NATO oder auch der Saal des Europarates in Straßbourg - und wie der Hamlet hörte ich nur Worte, Worte und Worte. Meine Vision war ganz einfach: was würde von unserer Welt, wenn die Delegationen statt Worte zu produzieren musizieren würden? Ob wir so das Unfaßbare in der Politik erfassen können?

Das Erfassen dieses Unfaßaren in der Sprache der Kunst hat uns jetzt mit dem Estnischen Staatlichen Sinfonieorchester zusammengeführt. Wenn Sie an die Wurzeln und Werdegang der heutigen professionellen Musik denken, empfinden Sie im Konzert vielleicht die tausendjährigen Gesangtraditionen der estnischen Mütter und Töchter. Sorgfältiger als irgendwo anders im Norden Europas hat Estland all das angesammelt, was uns von Rhythmen, Gesang und Melodien, von der Denkweise unserer Ahnen aus der Römischen Eisenzeit übermittelt wurde. Wenn Sie sich heute die Musik von Ester Mägi anhören, hoffe ich, daß Sie sich dieser Wurzeln entsinnen.

Die Hansestadt Tallinn/Reval war offen für die Musik aus den drei Weltteilen. So ist auch die estnische Identität durch eine enge Verflochtung der Urquellen und heutigen Gegebenheiten entstanden. Die estnische Nationalhymne so wie die unserer finnischen Brüder wurde geschrieben von dem Hamburger Komponisten Friedrich Pacius.

Just so möchte mein Land sein Verhältnis zu Europa und zu der Welt gestalten.

Wir sind überzeugt, daß auch Völker von nur einer Million mit ihren Sprachen, Denkweisen und Musik einen festen Platz in dem heutigen Europa haben. Weiteres mehr - wir sind überzeugt, daß die Festigung dieses Erkenntnisses in der tagespolitischen Realität ein bedeutender Prüfstein für Europa selbst ist. Unserem Europa muß das Finden des Gleichgewichts zwischen den gemeinsamen Bestrebungen und unterschiedlichen Identitäten nach Kräften sein. Estland hat es gefunden. Wird auch Europa sein Gleichgewicht finden?

Es ist das Examen, das wir gemeinsam bestehen müssen.

Unser Jahrhundert ist erschütternd und schmerzhaft gewesen. Wir haben zerstört und gebaut, getötet und erzeugt. Der Zerfall der Berliner Mauer hat uns eine neue Chance gegeben. Das 21. Jahrhundert erwartet von uns, daß die Demokratie auch wirklich zu Demokratie wird, daß das Europäisch-Sein auch mit einem wahren Inhalt erfüllt wird.

Meine Damen und Herren,

zu der estnischen Musiktradition gehört auch eine Art zu musizieren, wie die in Europa schon längst in die Vergessenheit geratenen Sängerfeste. Während der singenden Revolution, noch vor der Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit, hat das estnische Volk seinen politischen Willen zum Ausdruck gebracht, endlich mal die Okkupation und den zweiten Weltkrieg zu beenden, der für die Baltischen Staaten sieben mal länger andauerte als für das übrige Europa. Tausendstimmig wurde unsere in die Zukunft gerichtete Botschaft in die Welt entsandt: lasset den Liedern jetzt gehen!

Erlauben Sie mir auch bei der Eröffnung des heutigen Musikabends in diesem Saal jetzt schon unsere gemeinsame Botschaft zu wiederholen: lasset den Liedern jetzt gehen!

 

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