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Rede von Lennart Meri, Staatspräsident Estlands anläßlich der Beiratssitzung Süd der Deutschen Bank AG am 27. November 1995 in München
27.11.1995

Die Rolle der osteuropäischen Staaten im zusammenwachsenden Europa


Meine Damen und Herren,

zum Leitmotiv meines Vortrages möchte ich ein Zitat von Carl Friedrich von Weizäcker ausführen. Es lautet: "Ein Paradigma wird nur durch ein neues Paradigma gestürzt /.../. Solange keine katastrophalen Veränderungen stattfinden, wird eine Species, die eine ökologische Nische hat, NICHT dadurch ausgelöscht, daß sie diese Nische nicht gut genug ausfüllt, sondern durch eine andere Species, die dieser Nische BESSER angepaßt ist."

In Folgendem gestatten Sie mir dieses Zitat, das mich etwas an Toricellis Vakuum erinnert, bei der Ausarbeitung zweier Themen anzuwenden. Beide sind engstens miteinander verbunden. Das erste betrifft die Sicherheitspolitik Estlands und des Ostseeraumes, demzufolge auch des Europas und der Welt insgesamt.

Als zweites möchte ich die Problematik der Integration Estlands an die westeuropäischen Wirtschaftsstrukturen ansprechen, die für uns gerade heute, wo unser Ministerpräsident Tiit Vähi am vorigen Freitag den Beitrittsantrag Estlands an die Europäische Union unterschrieben hat, von besonderer Bedeutung ist. Ich will hoffen, daß es mir gelingen wird zu zeigen, daß diese beiden Themen wie zwei Seiten einer Münze voneinander nicht zu trennen sind.

Die eine Seite zeigt uns die Währung, die andere Seite den Namen des Staates, der diese Währung besitzt und schützt. Das Gütesiegel der EU ist der Wohlstand, das der NATO die Sicherheit. Ihre Gemeinsamkeit drückt sich in der Stabilität aus. Mathematisch: der Schnittpunkt von EU und NATO ist die Stabilität.

Vor meinem heutigen Publikum brauche ich mich nicht länger auszuführen, daß meine Heimat, Estland, ein lebendiges Beispiel dafür ist, wie heilvoll die Schocktherapie bei Behandlung einer kommunistischen Mißwirtschaft sein kann. Rasche Reformpolitik ohne jedes wenn und aber, Weltoffenheit, Liberalismus und Freihandel im wahren Sinne des Wortes, Privatisierung und äußerst freundliche Steuerpolitik haben Estland im Jahre 1994 im Bezug auf die ausländischen Pro-Kopf-Direktinvestitionen auf den Platz EINS unter den Transformationsländer Europas gebracht.

Die Studien der Europäischen Bank für Wiederaufbau und der IMF sowie - nicht zuletzt - der Deutschen Bank bezeugen, daß Estlands Wirtschaft unter den erwähnten Länder stärkste Wachstumsraten hat. Dies alles wird von der raschen Entwicklung der hochmodernen Infrastrukturen begleitet: schon heute ist es z.B. von Bonn aus leichter einen Fax nach Tallinn als nach Rottweil zu schicken.

Im November, meine Damen und Herren, ist es in München schon ziemlich kalt. In Estland ist es viel kälter. Dies hat aber zwei junge Russen vor ein Paar Tagen nicht daran verhindert, von der russischen Seite des Narva-Flusses die estnisch-russische Grenze schwimmend zu passieren, um in Estland eine Zuflucht zu finden. Ich glaube, die Gründe, die die zwei Jungen hatten, bedürfen keiner Kommentare.
1.

Vieles hat sich gründlich verändert seit der Folge revolutionärer Umbrüche, die die Teilung Deutschlands und die Teilung Europas beendet haben. Positive Beispiele liegen auf der Hand. Um nur das jüngste zu erwähnen: am 9. November 1995, an jenem so geschichtsstarken Tag ist die Ukraine in den Europarat aufgenommen worden. Ein Staat, dessen Schlüsselfunktion im zusammenwachsenden Europa keiner Erläuterungen bedarf, weder in Estland noch in Deutschland.

Das bipolare System, der herkömmliche Ost-West-Gegensatz existiert nicht mehr. Und doch ist darüber nicht der ewige Friede ausgebrochen, die Welt ist ein unsicherer Ort geblieben, und die Geschichte, die manche im Westen bereits im Verschwinden sahen, gibt es mittlerweile bereits im reichlichen Überfluss.

Obwohl das einstige Dasein der Betonmauer in Berlin schon fast in den Schatten der europäischen Vergangenheit gerückt ist, sind wir heute Zeitzeugen des Fortbestands der Mauern in den Köpfen geworden. Deren Steine sind hart und wiegen schwer: Unwissen, Verständnislosigkeit, Hedonismus, der scheinbare Siege feiert und scheinbare Niederlagen beklagt, Großmachtdenken, zu dem zu oft eine herabwürdigende Grundeinstellung gehört, insbesondere dann, wenn es um das Recht der Kleinvölker geht, ihre Kultur, ihre Identität, ihre Staatlichkeit zu entwickeln, um von ihren Pflichten Gebrauch zu machen. Denn was kann sonst die höchste Pflicht einer Nation sein, wenn es nicht die Aufbewahrung ihrer eigenen Identität und somit die Bereicherung Europas ist?

Und so sind auch die Esten heute nicht als Rollenträger eines frustrierten Bittstellers auf die europäische Bühne erschienen, sondern als gleichberechtigte, integrale Teilnehmer unseres gemeinsamen Geschehens, als aktive, selbstbewußte Mitgestalter der europäischen Lebenswelt. Ich füge nur ein Beispiel dazu. Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, an die Zeit kurz nach dem Mauerfall in Deutschland. Auf den Straßen von Leipzig ging es los: "Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu ihr," hieß die Parole. Und die D-Mark kam. Die Esten hatten keinen, an wen sie gleichermaßen hätten appellieren können: weder den reichen Onkel Hans noch die D-Mark. Wir mußten die D-Mark bei uns im Lande selber aufbauen und so haben wir es auch getan - am 20. Juni 1992, übrigens exakt am 44. Geburtstag der Deutschen Mark, die bei uns zwar Estnische Krone heißt, aber dem Wesen nach eindeutig durch die D-Mark, durch ein parlamentarisches Gesetz definiert ist.

2.

Als ich vorhin das Großmachtdenken, den in den Köpfen fortbestehenden Jalta-Geist erwähnte, so geschah dies nicht aus der Neigung zum Fechten mit Geistern. Das können wir ruhig den Demonologen überlassen. Wir leben heute in einer Welt der realen Gefahren. Das Gefälle zwischen Ost und West, das die Jalta-Teilung in Europa hinterlassen hat - politisch, wirtschaftlich, sozial, ökologisch - birgt unabsehbare Risiken, wenn es nicht rasch abgebaut wird. Und in einer Welt, die immer mehr in globalen Abhängigkeiten verstrickt ist, gilt dies noch mehr für die Kluft zwischen Süd und Nord. Eine immer größere Zahl von vorwiegend jüngeren Menschen, die in Not und politischer Instabilität leben, und ein kleinerer - und älter werdender - Teil der Menschheit, der mit seinen Überflußproblemen nicht zu Rande kommt, das schafft angesichts der modernen Informations- und Kommunikationssysteme Spannungen, die sich fast zwangsläufig mit ideologischem Radikalismus und religiösem Fundamentalismus immer neu bedrohlich mischen müssen.

Innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr klar voneinander zu trennen. Neue Bedrohungen jenseits des Militärischen - Völkerwanderungen neuen Typs, ökologische Kriegsführung, Terrorismus und weltweit operierende organisierte Kriminalität, politischer und religiöser Fundamentalismus - haben den klassischen Sicherheitsbegriff erschüttert. Anschläge wie sie in Japan, in den USA oder zuletzt in Frankreich verübt worden sind, zeigen die schreckliche Verwundbarkeit vor allem städtischer Agglomerationen und auf High-Tech basierender Infrastrukturen, geschweige denn der psychologischen Bedeutung eines traditionellen Sicherheitsgefühls.

All diese Gefährdungen zeigen eines gemeinsam: Kein Staat dieser Welt ist auf sich allein gestellt vor ihnen sicher, das gilt selbst für die Vereinigten Staaten. Vereinzelt können wir nichts, gemeinsam können wir alles. Die Herausforderungen gehen uns alle an, nur gemeinsam können wir sie bewältigen. Deshalb ist der europäische Zusammenschluss für uns lebenswichtig, und deshalb bleibt die Atlantische Allianz für alle Partner, gleich ob im Status eines Vollmitgliedes oder eines Aspiranten, existentiell notwendig.

Die Entwicklung, die die Atlantische Allianz während der letzten fünf Jahre genommen hat, hat dann auch die Behauptung, das Bündnis sei lediglich ein Instrument des Kalten Krieges gewesen und mit dessen Ende obsolet, eindrucksvoll widerlegt.

"Die NATO, " ich zitiere den Fraktionsvorsitzenden Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, "hat sich ganz im Gegenteil als ein höchst lebendiger, moderner und anpassungsfähiger Organismus erwiesen, der insbesondere auf die Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südeuropas beträchtliche Anziehungskraft ausübt. In ihrer Rolle als gesamteuropäischer Stabilitätsanker und als einzig verläßlicher Garant der Sicherheit ist sie neu bestärkt."( Zitatende)

3.

Von Moskau via Bonn nach Brüssel, lautet heute der Spruch. Die Herstellung der Selbstverständlichkeiten ist eine Aufgabe der Politik sowie der Diplomatie. Im Fall Estlands kann es nicht anders sein. Estland ist kein "nahes Ausland", "the near abroad" für Moskau, sondern es ist ein nahes, integrales Inland für Bonn und Genf, Strassburg und Amsterdam, Luxemburg und Göttingen und - last but not least - für München!

Es geht nicht um die Rückkehr nach Europa, wie manche Journalisten es so stereotyp zu schildern pflegen: Estland ist ein seit Jahrhunderten in Europa eingeschriebenes Land, wo just die von der Fremdmacht aufgezwungene Isolation die Bedeutung der abendländischen Wertegemeinschaft in den Gemütern des Volkes aufrecht erhalten hat. Es geht heute um die Integration in die Wirtschafts- sowie Sicherheitsstrukturen Europas, die so rasch wie möglich und so behutsam wie nötig erfolgen soll. Ich bin fest überzeugt, daß die EU uns in demselben Masse bedarf, in dem wir sie benötigen. Interesse und Verantwortung sind heute die wichtigen Stichworte. In politischen Gemütern Estlands ist Deutschland unter den europäischen Großmächten diejenige, deren lebendiges und mentales Interesse, begleitet von der historischen Verantwortung, mit der Standhaftigkeit, Souveränität und Garantierung des Freistaates Estland übereinstimmt.

Meine Damen und Herren,

eine staatliche Sicherheitspolitik, insbesondere wenn sie sich globale Wirkungen zum Ziel gemacht hat, ist die teuerste Art von allen denkbaren Politika. In demokratischen Staaten existiert aber - je nach dem - eine Grenze, deren Überschreitung von den Steuerzahlern nicht mehr wahrgenommen wird und die politische Gesundheit der Regierung gefährden könnte. So ist in unserem modernen Europa die Miteinbeziehung der Privatinitiative, vor allem des Privatkapitals in die Sicherheitspolitik aktueller denn je zuvor. Der Schutz der eigenen Investitionen im Ausland wird dann zu einem selbstverständlichen Bestandteil der staatlichen "Innenpolitik", dies wiederum ist durchaus zumutbar als Schutz des eigenen Steuerzahlers und Leistungträgers. In diesem Zusammenhang versteht sich auch der Cleveland-Aufruf von US-Präsidenten Clinton an die amerikanischen Geschäftsleute im November 1994: "Investiert im Baltikum!" Schon haben die Amerikaner signalisiert, daß sie dies gerne machen würden, jedoch auf eine zuverlässige Vermittlung und effiziente Kooperation mit einem Partner im westlichen Teil Europas angewiesen sind. Gemeint war Deutschland.

Meines Erachtens bietet sich hier eine einmalige Chance an, den Tendenzen eines sich bemerkbar machenden amerikanischen Isolationismus entgegenzuwirken. Dieser Isolationismus ist in einem starken Maße von dem europäischen Egoismus bedingt, der darauf eingestellt ist, Vorteile nur zu genießen und die Bürge der Stabilität den Amerikanern zu überlassen. Man hat beinahe vergessen, daß eine wahre Stabilität nur dann zu bewerkstelligen ist, wenn zwischen den Rechten und den Pflichten ein Gleichgewicht besteht.

Es wäre sinn- und perspektivvoll, wenn diese Chance von uns allen richtig benutzt werden könnte und wenn auf diesem Wege eine qualitativ neue, auf festen Verbindungen und gegenseitigen Verantwortungen beruhende transatlantisch-hanseatische Achse entstünde, deren Ziel eine organische, produktive Zugehörigkeit Estlands zu dem westlichen Wirtschaftssystem ist.

Die Frage eines solchen Zusammenschlusses, in dem auf Deutschland eine Schlüsselfunktion zukommt, hat aber auch einen anderen, weitaus globaleren Aspekt, der mit dem Zusammenbruch der herkömmlichen euro-atlantischen Illusion verbunden ist. Man hat sich in Europa sowie in Übersee jahrzehntelang mit dem Märchen ernährt, die auf den abendländischen Vorstellungen beruhende Gesellschaftsordnung und die effiziente, hochproduktive Marktwirtschaft seien Zwillingsbrüder. Dieser illusionserfüllter Faß ist umgekippt worden. Das ist eine philosophische Feststellung, die ich zwar gern annehme, wenn man eine philosophische Perspektive von Jahrhunderten vor den Augen hat. Als Politiker jedoch bewege ich mich aber in einer realen Zeit und muß Sie daran erinnern, daß das Beispiel von Stalins Rußland oder Hitlers Deutschland uns bezeugt: es gibt Ausnahmen, wo eine hohe Produktivität auch ohne Kreativität für kurze Zeiten, kurze Spurte durchaus möglich ist. Es geht also nicht nur um die Kapazitäten, sondern vielmehr um die Kreativität, die erst richtig durch Demokratie entfesselt wird. Ebenso entscheidend ist die simple Feststellung, daß zwei demokratische Staaten einander nie angegriffen haben und nie angreifen werden. Demokratie als Quelle der Stabilität, der Kreativität stellt für uns Europäer eine wahre Herausforderung dar.

Zweifellos betrifft diese Herausforderung sowohl die Deutschen als auch die Esten. Es kommt dabei nicht darauf an, die Vergangenheit etwa zu bewältigen oder die Gegenwart von überflüssigen Belastungen zu räumen; es gilt in allem Ernst, die Zukunft gemeinsam zu meistern.

Eben darin besteht ja die Rolle des Ostseeraums in einem zusammenwachsenden Europa: nur die volle Integration dieses Raumes verleiht dem "Standort Europa" eine neue Qualität, einen Tragfähigkeit, die auf der Kreativität und Weltoffenheit beruht.

4.

Meine Damen und Herren,

die Sicherheit in Europa ist nur dann ernst zu nehmen, wenn sie als unteilbar wahrgenommen wird. Die Kleinstaaten sind leichter zu verletzen, daher sind sie auch empfindlicher gegenüber alldem, was ihre Stabilität beeinträchtigen könnte. Als Präsident eines kleinen Volkes erlaube ich mir die Frage: Hat der Westen und sein führender Politikus die Entwicklungen in Rußland nicht immer wieder völlig falsch eingeschätzt? Läßt man sich bei neuen Interpretationen und Entscheidungen nicht irreführen, ja sogar einlullen von den mediensynchronisierten Plattitüden jener Politiker, die das Wünschenswerte mit der Wirklichkeit verwechseln?

Rußland ist eben Rußland. Im Unterschied zu den Naturgesetzen, die einen geheimnisvollen Übergang einer leblosen Materie zur lebendigen möglich machen, sind die Gesetze der Demokratie nicht im Genuß einer derartigen Fähigkeit. Ein Vakuum, das entstanden ist, wird nicht von Selbst aus durch eine Demokratie erfüllt. Das heutige Rußland ist dafür leider ein lebendiges Beispiel.

Rußland ist groß und Europa klein. Diejenige, die dafür plädieren, man dürfe Rußland nicht isolieren, haben zwar recht: Das ist wahr und wie jede Wahrheit, banal.

Nunmehr wird uns das Argument serviert, man könne die NATO nicht erweitern, denn das würde den Extremisten in Rußland Wasser auf die Mühle treiben. Moskau könnte das Gefühl haben, es wäre isoliert oder umzingelt. Diese Äußerung ist besonders grotesk, wird aber nunmehr durch viele Politiker ernst genommen.

Dabei sollte doch ein Blick auf die Landkarte zeigen, daß es so etwas wie eine Umzingelung Rußlands nicht gibt, in der Natur nicht gibt. Die Russische Föderation umfaßt die halbe Erde. Man sollte sich doch vor Augen halten, daß heute eine Stadt wie Luxemburg genau so weit von der nächsten russischen Grenze entfernt ist wie auf der anderen Seite der Welt Tokio. Oder umgekehrt: Die zu den USA und zu Rußland gehörigen Diomed-Inseln in der Beringstraße sind voneinander weniger als zwölf Kilometer entfernt. Das gibt ungefähr die Größenordnung an, und da kann man doch nicht von einer möglichen Isolierung sprechen, wenn westlich von Russland kleine Völker dem Sicherheitsbündnis beitreten wollen.

Wahrscheinlich ist dies den Russen genau bewußt, und dieser abwegige Gedanke einer Einkreisung eine Ausrede jener Regierungen, die nicht handeln wollen, sondern - wie seinerzeit in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg - die Probleme vor sich herschieben möchten, bis sie unlösbar geworden sind. Sollte es aber wirklich Russen geben, die, wie es die Regierungen behaupten, in der heutigen Lage nervös werden, so erinnern diese an folgendes Erlebnis: Einst, auf der Avenue Marceau in Paris, hat man am späten Abend einen Betrunkenen gesehen, der ständig um eine Laterne herumtorkelte und dabei laut rief: " Ich kann nicht mehr heraus, ich bin eingesperrt." Das Argument, daß Rußland sich vor einer Umzingelung fürchten sollte, ist etwa genauso logisch wie die Angst des Herumtorkelnden.

Ein Versuch, Rußland einzukreisen, wäre gleich dem, den Atlantischen Ozean zu isolieren. Sie sind in vergleichbarer Größenordnung, und Europa daneben wie eine winzige Halbinsel.

Es kann in der Tat eine seltsame Situation zustande kommen, wenn jemand sich Mühe geben würde, mit einer kleinen Käseglocke die große zu überdecken. Da ist das Scheitern schon vorprogrammiert. Heute haben wir noch Zeit uns Gedanken zu machen, wie wären die beiden Käseglocken - die kleine europäische sowie die große russische - unter den samtenen Deckel einer gemeinsamen Stabilität zu bringen.

5.

Erlauben Sie mir, bei der Gelegenheit den Beginn dieses Jahrzehnts mit dem Jahr 1995 zu vergleichen. Es scheint, als ob wir eine unerwartete Feier mit einem langen und andauernden Katzenjammer vergleichen würden. Dies gilt sowohl für den Westen als auch für den Osten, sowohl für die demokratische Welt als auch für das letzte Kolonialimperium. Diese Feier, die uns alle vereinte, trug den Namen Zusammenbruch des letzten Kolonialimperiums der Welt, den niemand voraussehen konnte. Dieses Ereignis hatte seinen Höhepunkt im Zusammenbruch der Berliner Mauer. Der brüderliche Handschlag über die Mauer und einen Augenblick danach durch die Mauer, verwandelte sich in ein Symbol, das wenigstens in diesem Moment die von Schulbüchern vertraute Demokratie auf beiden Seiten auf die Straßen brachte - Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit. Alles schien selbstverständlich, spontan und problemlos. Aber das war noch nicht alles. Auf eine andere Weise, in einem anderen Kontext, aber mit gleicher Spontanität wiederholte sich die Geschichte in Moskau im August 1991, als der kommunistische Staatsstreich unterbunden wurde. Das Durchbrechen einer Betonwand, Präsident Jelzin auf dem Panzerwagen - beide Symbole hatten eine so starke Ausstrahlungskraft, daß nur wenige sich darüber Gedanken gemacht haben: Die Augenblicke sind nicht zu verewigen. Die Augenblicke, wie unerwartet sie auch sein mögen, sind nur Kurven auf der Straße, die uns vorwärts bringt.

So sind wir wieder im Jahre 1995 und müssen feststellen: Die kommunistische Nomenklatura ist in manchen Staaten auf demokratische Weise wieder zur Macht gekommen, ungeachtet der 60 Millionen Opfer, die dieses Regime in Konzentrationslagern zum Tode gejagt hat. Mit großer Wahrsheinlichkeit werden eben die Kommunisten die nächsten Parlamentswahlen in Rußland gewinnen. Nicht nur dies: Von sechs Kandidaten der Präsidentschaftswahlen des kommenden Jahres haben vier die Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion oder sogar des Warschauer Paktes in ihr Wahlprogramm festgeschrieben. Die westlichen Analytiker begründen die Rückkehr der mittel- und osteuropäischen Staaten zum alten Regime mit der Entäuschung an den Reformen und mit der nostalgischen Sehnsucht nach alte Zeiten. Solche Naivität erinnert mich an einen Arzt, der nach einer Durchschnittstemperatur allen Patienten seiner Klinik die gleiche Behandlung verschreibt. Hier wiederholt sich dasselbe, was den Analytikern bereits Ende der achziger Jahre eigen war: Sowohl West-Europa als auch die Vereinigten Staaten haben Schwierigkeiten bei der Unterscheidung sachkundiger Prognosen und realer Gefahren von den Illusionen. Der Grund dafür liegt wohl zum Teil in der romantischer Vorstellung, als ob der Mauerfall in Berlin wie ein erfrischender Frühlingswind unabwendbar alle Blumen von Vancouver bis Vladivostok aufblühen ließe. Dort, wo die demokratischen Traditionen tief verwurzelt sind, ist das Leben in einer parlamentarischen Demokratie so selbstverständlich, daß es niemandem mehr einfällt, in dieser Form der menschlichen Koexistenz die komplizierteste Stufe der sozialen Entwicklung zu sehen.

Wenn der Westen politsche Schritte unternimmt und eine Rhetorik verwendet, die angesichts ihrer Harmlosigkeit als nachgebende Signale an Moskau verstanden werden können, so aktivisiert er die linkspopulistischen Kräfte. Ich warne den Westen davor, zu behaupten, als könnte dieses Vakuum unausgefüllt bleiben. Zum Verlierer wird der Westen selbst. Denn je weniger Stabilität in Mitteleuropa, desto weniger wird es sie geben im Westen, desto kleiner wird der Westen werden.

Wir haben in den letzten Jahren leider mehrmals einen Widerspruch erleben müssen, der uns sehr nachdenklich stimmen sollte: Einerseits gibt es keine vernünftige Alternative für eine wirklich konsequente, rasche Reformpolitik, andererseits kann aber keine echte, den Populismus vermeidende Reformregierung wirklich populär sein und scheitert bei den Wahlen. Bei der Akzeptanz aller Argumentationen, die etwa mit Pilzen nach dem Regen oder Eulen von Minerva zu vergleichen sind, wage ich mich immerhin zu fragen: Liegt es doch nicht auch an der lauwarmen Haltung des Westens gegenüber der europäischen Identität selbst? Liegt es auch nicht an der Verantwortungslosigkeit und am mangelnden Mut, infolge dessen wir immer wieder eine künstliche Verlängerung einer postkommunistischen Agonie wahrnehmen müssen? Wie lange noch toleriert der Westen, daß ein Staat unter dem Vorwand seiner "innenpolitischen Lage" Schritte tut, die eindeutig der europäischen Sicherheit zu Lasten kommen?

Ich brauche bei meinem sachkundigen Publikum gar nicht zu fragen, wieviel Sicherheit steckt in der Deutschen Mark. Es ist aber heute der Augenblick gekommen, wo ich Sie fragen will: Wieviel Deutsche Mark kostet eigentlich die Sicherheit in Europa?

Ich danke Ihnen.

 

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