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President der Republik auf der Beratung am 23. September 1994 in Frankfurt
23.09.1994

Durch die Wirtschaft zur Sicherheit


Herr Vorsitzender,
meine Damen und Herren!

Nehmen wir an, daß bei den bevorstehenden Wahlen irgendeine politische Partei sich die Wiederherstellung des Dritten Reiches, sowohl ideologisch als auch territorial, zum Ziel setzen würde. Das hätte die Einmischung von Rechtsmechanismen zur Folge, diese Partei wäre verboten noch bevor die Presse der Nachbarländer der Bundesrepublik darauf reagieren könnte.

Die Situation von Estland ist anders. Das Programm der Partei von Zjuganov in der Russischen Föderation beinhaltet die Wiederherstellung der Sowjetunion, ideologisch, mit den ehemaligen Grenzen, mit den ehemaligen Einflußsphären. Das Rechtssystem in Rußland hat sich noch nicht vollkommen ausgebildet und kann darauf nicht reagieren wie das im Gericht zu Karlsruhe der Fall ist. Es gehört auch das zur Vogel-Strauß-Politik, daß ein von dem sowjetischen System getöteter Mensch als weniger getötet angesehen wird als ein vom Nazismus getöteter Mensch. Ich frage nicht, welches der beiden totalitären Systeme mehr Millionen Opfer verlangt hat, jeder Mensch ist heilig, obwohl es so aussieht, als ob das Leben eines Menschen in Europa mehr heilig wäre als in Ruanda. Die Doppelmoral wollen wir hierbei nicht behandeln. Bei der reichen Auswahl an Kosmetika in unserer Konsumgesellschaft würde man weder Ihre noch meine Schamröte auf dem Bildschirm im Laufe von den zehn Sekunden, die CNN diesem Problem widmet, sowieso kaum merken. Durch diese skeptischen Bemerkungen will ich zum Ausgangspunkt von meinem Vortrag kommen: Das fundamentale Problem von Estland wie auch von beiden anderen Baltischen Staaten ergibt sich aus der Tatsache, daß wir nicht imstande sind, unsere Sicherheit in einer kritrischen Situation effektiv zu schützen, und daß sich niemand in einer kritischen Situation für uns einsetzt.

Bei dieser realistischen Schlußfolgerung, meine Damen und Herren, sind wir uns einig, gefällt es uns oder nicht. Ich behalte dabei die Politiker im Auge, die Menschen, die politische Entscheidungen treffen, nicht die Dichter, meine ehemaligen Kollegen, die mir auch heute näher stehen, als die Politiker.

Wenn die Sicherheit Estlands nicht international garantiert ist, soll Estland sie selbst gewährleisten. Von hier auch die Überschrift von meinem heutigen Vortrag " Durch die Wirtschaft zur Sicherheit ".

Historischer Wendepunkt

Estland und seine Baltischen Schwestern müssen beim Aufbau ihrer Sicherheit auf drei Momente achten. Erstens: Unsere Beziehungen zu westlichen Ländern müssen so intensiv sein, daß jede Druckausübung auf Estland und Baltische Staaten Moskauer Extremisten mehr kosten würde als der Nutzen, der sich daraus ergibt. Hoffentlich haben Sie bemerkt: Ich spreche über Extremisten und nicht über die Regierung der Russischen Föderation. Ich bin davon überzeugt, daß die schweren Verhandlungen vom 26. Juli mit Presidenten Boris Jeltsin eine neue Situation geschaffen haben, aus der sich zwei Schlußfolgerungen ergeben. Wir konnten uns über drei grundlegende Fragen einigen, von denen zwei noch an demselben Tag und die dritte einige Tage später eine juristische Form erhielten und von uns unterzeichnet wurden. Im Unterschied zu der Bundesrepublik, von der der 31. August als das Ende der Nachkriegsperiode nach dem II. Weltkrieg betrachtet wird, betrachtet die Republik Estland den 31. August als das Ende vom II. Weltkrieg auf ihrem Territorium. Das ist eine Wende zum Besseren in unseren Beziehungen zu der Russischen Föderation , und wir haben diese historische Chance intensiv zu fördern und zu vertiefen. Selbstverständlich sind die drei Verträge die ersten von vielen. Anders gesagt, - viele Probleme, unter anderem auch die gegensätzliche Interpretation des von Estland und Rußland 1920 geschlossenen Tartuer Friedensvertrages, haben keine dem Völkerrecht entsprechende Lösung gefunden. Daß das übersehen wird, zwingt sowohl der Russischen Föderation als auch der Republik Estland eine Rolle auf, die nicht ihren nationalen Interessen entspricht. Wie die Erklärung vom Außenministerium der Russischen Föderation vom 4. Juli bekanntgibt, ist dieser völkerrechtlich gültiger Vertrag für Rußland ungültig. Begründet wird das durch ein Beispiel, das aus dem Arsenal des " kalten Krieges " entlehnt ist : Estland sei freiwillig in die Sowjetunion eingetreten. Daraus ergibt sich ein für die Russische Föderation äußerst fraglicher Standpunkt, als ob das Geheimprotokoll vom am 23. August 1939 geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt, auf Grund dessen Estland und seine Baltischen Schwestern von der Roten Armee okkupiert wurden, zum Teil bis heute gültig wäre. Zum Teil, weil es für Polen als eine Großmacht nicht gilt, für Estland und Baltische Kleinstaaten aber wohl. Diese Interpretation ist nicht konstruktiv und ist vor allem für Rußland selbst schädlich, weil sie das internationale Vertrauen zu der Russischen Föderation untergräbt. Ich bin davon überzeugt, daß es sowohl im Interesse von Estland als auch im Interesse von Rußland ist, diese Frage am Verhandlungstisch auf eine Weise zu lösen, die den Erwartungen der internationalen Öffentlichkeit entspricht. Wir wissen, daß weder die Bundesrepublik noch die westlichen Staaten die Baltischen Länder als einen Bestandteil der Sowjetunion anerkannt haben, daß sie immer das juridische Dasein unserer Staaten betont haben, und wir sind dafür dankbar. Gleichzeitig spüren wir, daß die Nichtanerkennungspolitik von westlichen Staaten nach dem Abzug der Streitkräfte der Russischen Föderation ihre Aktualität verliert , und daß eine gefährliche Illusion entstehen kann, als ob das Baltische Problem gelöst wäre, und somit von der Tagesordnung. Das hieße, russische Extremisten ungewollt zu ermutigen. Dies aber wäre dem Presidenten Jeltsin, der Republik Estland und auch der Stabilität der Ostseeregion wie auch dem West-Europa, die Bundesrepublik inbegriffen, gleich gefährlich und unerwünscht . Ich sehe hier weitere Möglichkeiten für die internationale Zusammenarbeit. Es sind hier korrekte völkerrechtliche Lösungen zu finden, denn es liegt in unser aller Interesse. In den estnisch - russischen Beziehungen sind wir also zu einem Wendepunkt gekommen, der uns die Möglichkeit gegeben hat und auch die Pflicht, gegenseitig auf unsere Souveränität und nationale Sicherheit zu achten, auf die rhetorische Konfrontation zu verzichten, auf internationale Normen und Sitten zu achten, während keines von beiden Sonderrechte im Bereich der nationalen Sicherheit oder der Menschenrechte hat, nur weil auf der einen Seite ein sehr großer und auf der anderen Seite ein sehr kleiner Staat steht. Die demokratische Welt ist kein Warenhaus, wo die Staaten nach ihrer Größe eingeschätzt werden.

Komplexe erkennen, um sie loszuwerden

Die genannten Ziele sind zu erreichen, ohne Rußland auch ungewollt zu provozieren. Rußland hat sich langsam damit abgefunden, daß die Selbständigkeit von Estland und anderen Baltischen Staaten unabänderlich ist. Dasselbe können wir nicht über die Einstellung Rußlands zu einigen GUS-Staaten behaupten. So zum Beispiel der Wunsch Rußlands, über den Erdölexport aus den Staaten Mittelasiens und Kaukasiens Kontrolle auszuüben. Doch zur gleichen Zeit hat Rußland nicht vergessen, daß Estland und andere Baltischen Staaten bei der Auflösung der Sowjetunion die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Baltischen Staaten haben Ideen generiert. Die Baltischen Staaten zersetzten das faule totalitäre System wie Pilze die faule Natur zersetzen. Die russischen radikalen Kreise sehen in den Baltischen Staaten auch heute eine Gefahr. Das gibt auch den Anlaß zu dem " kalten Krieg " gegen Estland im Bereich der Menschenrechte, zu der wirtschaftlichen Diskriminierung, zum Zollkrieg. Das ist aber ein Schwert mit zwei Klingen. Ein klassisches Beispiel: Moskau führte für Estland für Energie die Weltpreise ein, doch für Lettland und Litauen war das nicht der Fall. Im Ergebnis davon ist Estland heute nicht von der russischen Energie abhängig, im Gegensatz zu Litauen und Lettland, die davon abhängig und deshalb auch zu manipulieren sind. DIe aufgezwungene Schocktherapie im bitterkalten Winter 1990/ 1991 war für die estnische Gesellschaft eine ideale Einleitung für die geplante Schockbehandlung, die Estland dank manchen wirtschaftspolitischen Kennzahlen auf den ersten Platz in Mitteleuropa gebracht hat.

Den Investitionen und Reinvestitionen nach ist Estland den Baltischen Staaten und Visegrad-Staaten weit voraus.Politisch ergibt sich daraus, daß die politische Integration Estlands in Europa gleichzeitig mit den anderen Baltischen und Visegrad-Staaten stattfinden soll. Zonen von unterschiedlicher Sicherheit werden zu Zonen einer Unsicherheit führen. Die Sicherheit bildet aber ein Ganzes und läßt keine schwächeren und stärkeren Glieder zu. Estland ist zu der Schlußfolgerung gekommen, daß unsere Sicherheit nur durch die Zuverlässigkeit unserer Wirtschaft gewährleistet werden kann. Daraus läßt sich unsere nächste Aufgabe ableiten: Wir müssen sowohl für den Westen als auch für den Osten unentbehrlich sein. Unter dem Westen verstehen wir die Europäische Union, zu der recht bald auch uns kulturell, wirtschaftlich, historisch und emotionell nahe stehende Partner gehören werden - die Nordischen Staaten. Unter dem Osten verstehen wir die Russische Föderation, vor allem Groß-Petersburg - sieben Millionen Einwohner - mit ihrem Hinterland, aber auch die Ukraine und Kasachstan. Das zuletzt Genannte , seiner Fläche nach so groß wie West-Europa, reich an Bodenschätzen, eröffnet bald in Estland seine Botschaft. Kasachstan ist einer der fünf Staaten an dem Kaspischen Meer, über die Wasserstraße Wolga und über die Estnischen Häfen will er auf das Weltmeer und zum Welthandel kommen. Kasachstan, das sich an der Grenze zu China befindet, hat für sich die Unentbehrlichkeit Estlands entdeckt.

Worauf beruht die Zuverlässigkeit Estlands?

Fünfzig Okkupationsjahre hinter dem eisernen Vorhang haben sich auf das estnische Volk und auf den estnischen Staat auf zwei gegensätzliche Weisen ausgewirkt, negativ und positiv.

Erstens: Wir sind immer noch ein Europäischer Staat, doch mit vielen Merkmalen, die für die Dritte Welt charakteristisch sind. Das wichtigste von ihnen ist die Notwendigkeit, Estland zu dekolonisieren. Dadurch genießen wir die Sympathie der Staaten der Dritten Welt.

Zweitens: Unser Idealismus ist immer noch ungeheuer groß. Die Schocktherapie setzt eine vorübergehende Selbstaufopferung für ihr Ziel aus. Das Ziel Estlands ist sich schnell in die EU, WEU und NATO zu integrieren. Unser Parlament hat dafür in einer bemerkenswert kurzer Zeit die notwendige gesetzgebende Basis geschaffen, auf der unsere Währungspolitik und Wirtschaftsreform beruht.

Den Grundstein für die Währungspolitik bildet der ausgeglichene Haushaltsplan und der Grundsatz, daß das Geld im Umlauf einer strengen Kontrolle unterliegt. Das Gesetz gewährleistet die strenge Unabhängigkeit der Estnischen Zentralbank.

Oben habe ich schon die Dekolonisierung erwähnt. Einige Zahlen zur Illustration. In den Okkupationsjahren war der Warenaustausch Estlands zu 97 % mit der ehemaligen Sowjetunion verbunden. Bis zum vorigen Jahr haben wir uns auf den Westen umorientieren können und unsere Abhängigkeit vom östlichen Markt verringern können. Zur Zeit ist die Abhängigkeit Estlands vom östlichen Markt kleiner als das in Finnland Anfang der 80-er Jahre der Fall war.

Zur gleichen Zeit will ich betonen , daß es nicht ein Ziel für sich ist, auf den östlichen Markt zu verzichten. Umgekehrt, anstelle der kolonialen Abhängigkeit wollen wir einen normalen Warenaustausch haben. Unser nächstes Ziel ist, über normale Beziehungen zu einer ausgeglichenen Partnerschaft zu kommen. Wir sind an einem Meistbegünstigungsvertrag mit Rußland interessiert und können uns nicht mit der bisherigen Praxis abfinden, laut der Rußland Zolltarife als ein außenpolitisches Mittel benutzt. Wir sind bereit Transithandel mit Rußland über estnische Häfen in dem Fall zu fördern, daß die Handelsbeziehungen zum Westen damit im Gleichgewicht sind. Eine Möglichkeit dazu ist die Gasleitung Nord-Süd, die aus Norwegen über Finnland, über den Finnischen Meerbusen, über die Baltischen Staaten und Polen in die neuen Bundesländer führen würde, und die Gasleitung Ost-West, die den russischen Energieexport über die estnischen Häfen ermöglichen würde. Der ausgeglichene Warenaustausch bildet einen wichtigen Grundstein der Sicherheit.Estland ist ehrlich daran interessiert, daß die Wirtschaftsreformen in Rußland unabänderlich werden, daß Rußland ein stabiler Handelspartner ist, der seine Zolltarife nicht jede Woche verändert.

Estland weiß wohl die schwierigen wirtschaftlichen, ideologischen, politischen und militärischen Kataklysmen zu schätzen und anzuerkennen, die die Regierung der Russischen Föderation lösen will. Einer der russischen Wirtschaftswissenschaftler hat gesagt, daß Rußland in eine Stabilität gekommen ist, die er Stabilität am Boden vom Abgrund nennen würde. Doch scheint es mir , daß Rußland zu einem langsameren Inflationstempo und zum aufgehaltenen Produktionssturz zu gratulieren ist. Estland und Deutschland sind hier der gleichen Ansicht, denn wir haben die gleichen Sicherheitsinteressen, wir haben die gleichen Erfahrungen. Dabei ist am wichtigsten die Überzeugung: Die Sicherheit bildet ein Ganzes.

Integration und Investitionen als Garantien für die Sicherheit

Estland ist bisher der einzige Staat, der ohne Zwischenetappen auf den Freihandel übergegangen ist. Estland ist schon heute für Europa fertig.

Meine Frage lautet: Ist auch Europa fertig für Estland?

Neben politischen und sicherheitspolitischen Mechanismen hat Estnische Gesetzgebung günstige Bedingungen für Außeninvestitionen geschaffen:
_ in Estland gilt eines der einfachsten Besteuerungssysteme in Europa
_ die Einkommensteuer ist niedrig ( 26 % )
_ Ausländer haben das Recht, den Boden zu kaufen
_ das eingebrachte Kapital wird nicht mit der Repatriierungssteuer belegt
_ wie es sich aus unserem ausgeglichenen Haushaltsplan ergibt, ist der Durchschnittslohn unserer verhältnismäßig qualifizierten Arbeitskraft 140 $ monatlich

Ich bin der Ansicht, daß heute, drei Wochen nach dem Abzug der Russischen Nord-West-Truppen vom Estnischen Territorium dieses Ereignis als ein Wendepunkt einzuschätzen ist.Wir haben grundsätzlich neue Möglichkeiten und Pflichten, die nüchtern zu schätzen und schnell zu benutzen sind. die Natur duldet keine leeren Stellen und die Marktwirtschaft auch nicht. In Estland finden sie europäische Denkweise zusammen mit dem sachkundigen Kennen von russischen Problemen. Das mag zur Zeit wohl unser am meisten geschätztes Kapital bilden. Leider weiß weder die Europäische Union noch die Bundesrepublik das auf die Weise zu schätzen, wie das in den EFTA-Ländern und in manchem fernen und exotischen Land, auch Japan inbegriffen, der Fall ist. Es gehört zu den Ureigenschaften vom Menschen, sich an die gestrigen Erfahrungen zu klammern. Zum Glück steht einem Menschen die Menschheit gegenüber, die schon lange vor Norbert Wiener eine einfache Wahrheit entdeckt hat: Die ständige Veränderung ist die Voraussetzung für die Selbsterhaltung.

 

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