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Eröffnungsansprache des Präsidenten der Republik Estland, Lennart Meri, anläßlich des Europamusicale-Konzertes am 31.10.1993 in München
31.10.1993

Ich komme aus einem Land, dessen Name Estland ist.

Meine Aufgabe ist es, Ihnen von diesem Rednerstuhl aus die Koordinaten dieses Landes zu beschreiben. Die Aufgabe der Kunst ist es, Ihnen auf dieser Konzertbühne die Seele unseres Landes zu öffnen, seine Farben, seine Sehnsüchte und Hoffnungen.

Ich bin einer der wenigen europäischen Präsidenten, der mit einem Blick die Hälfte seines Volkes hat überschauen können. Estland ist nämlich ein kleiner Staat, mit einem etwas größeren Territorium als Dänemark, Belgien, die Niederlande oder die Schweiz, doch merklich kleiner von seiner Bevölkerungszahl her: wir sind etwas mehr als eine Million. Wir liegen am Meer, welches die Engländer und Franzosen als Baltisches Meer bezeichnen, die Deutschen als Ostsee, aber die Esten mit ihrer eigensinnigen Logik als Westliches Meer: das Meer liegt von uns aus gesehen doch im Westen.

Eigentlich ist Estland eine von drei Seiten mit Wasser umgebene Halbinsel, wie auch West-Europa. In erster Linie dadurch und durch unsere hyperboreische Lage bedingt haben die in der europäischen Kulturgeschichte so bedeutsamen Völkerwanderungen Estland unberührt gelassen. Daraus resultiert eine unserer charakteristischen Eigenschaften: wir gehören zu den wenigen Europäern, die 50 Jahrhunderte dauerhaft an einem Ort gelebt und unter strengen nordischen Bedingungen auf steiniger und sumpfreicher Landschaft ihre Kultur geschaffen haben. Sehen Sie nicht in den fünfzig ununterbrochenen Jahrhunderten einen nach dem Guiness-Buch strebenden Rekord. Für Europa ist vielmehr unsere Erfahrung bedeutsam, daß sich diese Kultur in einem harmonischen Verhältnis mit der Umwelt entwickelt und nicht zu ökologischen Konflikten geführt hat wie im antiken Griechenland oder Italien. Vielleicht spiegelt sich diese Konfliktlosigkeit in unseren Volksliedern oder unseren professionellen Kompositionen wider, die von manchen für monoton gehalten werden. Die Esten selbst empfinden ihre Geschichte, ihre Berge oder ihre Farben nicht als monoton. Als ein kleines Volk eines kleinen Landes betrachten wir sie nicht durch Teleskope, sondern Mikroskope. Unser Mont Blanc ist 318 Meter hoch, dennoch sind über ihn Lieder geschrieben worden. Unsere Hügel, unsere größeren Bäume und die Findlinge, die von der letzten Eiszeit auf unseren Feldern zurückgebliebenen sind, haben alle ihre Namen genauso wie lebendige Menschen. Jedes Hektar unseres Landes ist dokumentiert in einer Redensart, Überlieferung oder einem Lied, in der Literatur oder in wissenschaftlichen Artikeln. Auf estnischem Boden muß man vorsichtig gehen, um nicht auf lebendige Geschichte zu treten. Der Este steht mit Estland in einem ständigen Dialog. Es ist ein stilles Geflüster. Die Pause ist die klingendste Note der estnischen Musik.

Vorhin sagte ich, daß ich mit einem Blick die Hälfte unseres Volkes habe überschauen können, eine halbe Million. Sie hatten sich auf einem in der Nähe unserer Haupstadt Tallinn gelegenen Platz versammelt, welchen wir Sängerplatz nennen. Diesen riesigen Platz könnte man auch Thermophylae, Cannae oder Verdun nennen, denn er ist nach dem Zweiten Weltkrieg unser letztes Schlachtfeld gewesen, hinter dem des Unterganges dunkles Vergessen gähnte. Aber unsere Bögen sind die Soprane gewesen, unsere Kanonen die Bässe und unsere Vercingetorixe die estnischen Dirigenten und Komponisten, in deren Händen die Musik ihre ursprüngliche Funktion wiedergefunden hat: vom Zeitvertreib oder vom Vorwand für die Abendgarderobe erhob sie sich zum schützenden Schild des Volkes, zur Beschützerin seiner Identität. Einige von Ihnen erinnern sich vielleicht noch an Zeitungsberichte über die "Singende Revolution". Dies war kein bildlicher Vergleich. Es war vor nur einigen Jahren unsere Realität und ist heute, wie vieles andere, schon ferne Geschichte.

Dennoch muß ich sagen, daß dieses einzigartige Bild eines Volkes, das ein Lied singt, in mir neben Hoffnung, Stolz und Selbstbewußtsein auch Beklemmung und Angst hervorgerufen hat. Die Hälfte des Volkes paßt auf einen Platz. Wievielmal würde die Menschheit in einen Kubikkilometer passen? Die Musik als der allgemeinverständlichste Teil der Kultur ist verpflichtet, auch unbequeme Fragen zu stellen. Kultur, wie ich sie verstehe, ist die einzige Umwelt, die ein Fortdauern der Menschheit garantiert.

Aber in bezug auf Estland verstand ich, während ich dem singenden Volk zuhörte und selbst mitsang, noch eine Eigenart. Es gibt etwas mehr als eine Million Esten. Die Beziehungen zwischen Staat und Bevölkerung sind demzufolge völlig anders als in Deutschland oder in Frankreich oder auch im kleinen Schweden. Unsere Beziehungen sind familiärer Natur. Jeder Erwachsene kann in jedem estnischen Dorf Geld für die Heimfahrt oder Gummistiefel ausleihen, wenn er dies benötigt. Reicht eine Million aus, um auch Kunst zu pflegen, die Sterne, die Sprache der Sumerer oder den Bau der Atome zu erforschen, so zu musizieren, daß man auch in der Zukunft wieder nach München eingeladen wird?

Denn die Besonderheit Estlands liegt gerade darin, daß wir, indem wir eine Familie sind, es auch vermocht haben, ein Staat und eine Kultur zu sein.

Wir haben unsere Identität mit Waffen geschützt, noch mehr aber mit Traditionen, die zu den ältesten in Europa gehören. Vielleicht kann Ihr feines Gehör sie in unserer Musik spüren. Wir haben aber unsere Identität vor allem geschützt, um in Europa zu bleiben, um Europäer zu bleiben, und um Europa zu helfen, das wichtigste Phänomen Europas zu bewahren - die Vielseitigkeit seiner Kulturen. Am Beispiel des Estnischen Staatlichen Symphonieorchesters bleibt es Ihnen überlassen zu entscheiden, in welchem Maße dies uns durch Musik gelungen ist. Unsere Konzertsaison haben wir, wenn ich mich nicht irre, am 3. Juni 1583 eröffnet, als die Stadt Tallinn-Reval für 52 Reichstaler, 114 Pfund Roggen und 10 Ellen Tuch einen Musiker in Dienst nahm, der verpflichtet war, das ganze Jahr über den Stadtbewohnern professionelle Musik anzubieten. Jetzt, in den ersten schwierigen Jahren der Wiederherstellung der Selbständigkeit, ist das Gehalt unserer Symphoniker nur etwas höher als das der Musiker vor etwa vierhundert Jahren. Das zeugt vom Idealismus und von der Treue zur europäischen Kultur, aber auch von Ihrer Verpflichtung, meine Damen und Herren den Begriff "Europa" zusammen mit den Grenzen Europas ostwärts zu erweitern. Und das ist meine wichtigste Botschaft an Europamusicale. Ich bin dem Schirmherren von Europamusicale, dem Präsidenten der EG-Kommission Herrn Jacques Delors dankbar, daß er zusammen mit der Stadt München diesen wunderschönen Saal und dieses ausgezeichete Mikrophon für die Botschaft zur Verfügung gestellt hat, die die estnischen Musiker - wie ich hoffe - Ihnen jetzt überbringen, um damit Ihre Herzen zu bewegen.

 

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