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Präsident der Republik Estland auf dem feierlichen Mittagessen zu Ehren des Deutschen Bundespräsidenten und Frau Richard von Weizsäcker im Schloss Palmse am 12. Juni 1993
12.06.1993

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Frau von Weizsäcker,
meine Damen und Herren,


Zum ersten Mal besucht ein deutsches Staatsoberhaupt die Republik Estland. Dieses historische Ereignis an sich besagt schon sehr viel und nach unseren Gesprächen gestern und heute wäre es eigentlich nicht mehr notwendig, etwas zu sagen, um meine Fruede über diesen Besuch ausdrücken. Ich glaube, dass Sie meine Fruede meinem Gesicht und meiner Haltung ablesen können.

Jedoch dieser feierliche Augenblick regt mich an, einige Worte zu sagen.

Ihr Besuch findet in einer besonderen Zeit statt. Ganz Europa und nicht nur Europa, ist in Bewegung geraten und der Verlauf der Geschichte scheint sich beschleunigt zu haben.

Wir haben Veränderungen miterleben können, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar waren und in Anbetracht der Umbrüche, die in ihrem Anfangsstadium vielfach eher als Zusammenbrüche bezeichnet werden könnten, fühlen sich vielleicht viele unsicher.

Es ist nur natürlich, denn schnelle Veränderungen können im Menschen Angst vor der Zukunft hervorrufen und mit welcher Anstrengung auch immer wir in die Zukunft blicken mögen, keiner kann sie genau voraussehen.

Es gibt sicherlich auch recht viele in der Welt, die eine nostalgische Sehnsucht nach den alten, scheinbar ruhigen Zeiten haben, aber ich möchte hoffen: nicht in Estland, nicht in Deutschland!

Den trotz aller Schwierigkeiten sind unsere Länder ja die Nutzniesser dieser Veränderungen gewesen: Deutschland hat seine Einheit, Estland seine Freiheit wiedererlangt. Und das müsste uns verbinden! Damit sind wir in gewisser Hinsicht Schicksalsgefährten geworden!

Das mag als eine mutige Behauptung klingen, aber meines Erachtens hat es auch einen tieferen Inhalt, hat einen tieferen Sinn.

Uns verbindet auch ein gemeinsames europäisches Erbe, obgleich womöglich etwas ungleichmässig verteilt, aber das dürfte heutzutage nicht mehr so wichtig sein, denn wir verstehen ja Europa nicht nur als eine geographische oder wirtschaftliche Einheit, sondern eher als eine Zivilisation, eine sich langsam bildende Wertegemeinschaft.

Davon geht unsere Vision von der Zukunft Europas aus und darauf stützt sich unser fester Glaube, dass Estland einmal wieder, in nicht so entfernter Zukunft, im wahrsten Sinne des Wortes Europa angehören wird.

Wir haben uns unseren Weg nach Europa vorgezeichnet und Schritt für Schritt, auf europäische Art und auf demokratische Weise, versuchen wir unser Ziel zu erreichen. Gewiss, es ist ein holpriger Weg und wie schnell wir vorankommen, hängt nicht nur von uns ab.

Hierbei fällt mir ein, was ein russischer Politiker über unser viel Aufsehen erregendes Ausländergesetz behauptet hat.

Er meinte, dass unser Parlament dieses gesetz vor allem deshalb verabschiedet hätte, um die Aussenwelt auf Estland aufmerksam zu machen. Nach unserer singenden Revolution, nach den blutigen Ereignissen im Januar 1991 hätte die restliche Welt die baltischen Staaten wieder vergessen.

Erstens, er hat nicht recht!

Wir wissen, dass wir in vielen Ländern sehr viele Fruende haben, die uns nicht aus den Augen verlieren, die uns ständig helfen und unterstützen.

Zweitens, an sich wäre es ja gar keine schlechte Idee!

Als ehemaliger Schriftsteller, oder richtiger gesagt, als ein Schriftsteller, der seine literarische Tätigkeit zeitweilig unterbrochen hat, weiss ich Phantasie sehr zu schätzen. Tatsächlich!

In der heutigen Welt, in der spannende Ereignisse einander mit einer kaleidoskopischen Geschwindigkeit folgen, um dann von den Medien mit der Lichtgeschwindigkeit über die ganze Erdkugel verbreitet zu werden, kann die Stimme eines kleinen, stillen und zurückhaltenden Volkes schon unbeachtet bleiben.

Warum nicht ein bisschen Krach zu schlagen?

Jedoch drittens, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen beteuern, dass wir es ernst nehmen mit unserer Demokratie!

Wenn uns beim Wiederaufbau unseres demokratischen Staatswesens Fehler unterlaufen oder etwas nicht bestens gelingt, dann ist es bestimmt nicht unsere schlaue Absicht, sondern unsere Unerfahrenheit, unser Ungeschick, Misserfolg oder auch eine Auswirkung ungünstiger äusserer Faktoren.

Also, als unsere Parlamentarier für dieses Gesetz stimmten, dann war es ihr ernst und als ich dieses Gesetz zur Begutachtung dem Europarat und der KSZE zuschickte, dann war es auch mein ernst.

Wir sind uns bewusst, dass wir es uns nicht leisten könnten, Demokratie zu spielen. Wir sind uns bewusst, das wir nur als ein demokratisches Land in Europa ernst genommen werden können.

Ich habe vorher erwähnt, dass wir Freunde haben, die uns helfen.

Ich hoffe , Sie werden es mir nicht übel nehmen, wenn ich Ihnen sage, dass sehr viele von diesen Freunden aus der Bundesrepublik Deutschland kommen. Und heute haben wir die Ehre und die Freude, einen kleinen Teil von diesen Freunden bei uns in Estland begrüssen zu können.


Liebe Freunde!

Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich für Ihre Unterstützung, die uns sowohl politisch als auch wirtschaftlich viel geholfen hat. Ich bedanke mich aufrictig für Ihre Bereitschaft zur weiteren Zusammenarbeit mit uns.

Ich hoffe , auf eine Aufzählung einzelner Punkte unserer Zusammenarbeit verzichten zu dürfen, denn einerseits: es ist schon so viel in Gang gesetzt worden, dass man es gar nicht mehr aufzählen kann, was nun nicht heisst, dass wir uns nicht mehr wünschten, und andererseits: Sie, die Sie heute hier sind, kennen sich sehr gut aus in unseren Beziehungen. Sie alle haben direkt oder indirekt an der Vorbereitung oder an der Verwirklichung unserer Verträge und Projekte, an unserer Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen teilgenommen. Nochmals herzlichen Dank!

Meine Damen und Herren!

Ich habe einmal Estland mit einem verlorenen Sohn Europas vergleichen, der wieder nach Hause möchte. Gestatten Sie mir auch heute diesen poetischen Vergleich.

Wir klopfen schon an die Tür und wir glauben zu wissen, dass der Vater die Tür öffnen möchte, aber es geht vorläufig nicht. Zum Teil, weil als ein Ergebnis gewisser Ereignisse sowohl in der älteren als auch in der neueren Geschichte auf einmal mehrere von diesen verlorenen Söhnen gibt, die alle heimkehren wollen. Die Familie im Haus möchte sich, und die Söhne draussen müssen sich aber auf diese plötzliche Familienzusammenführung etwas vorbereiten.

Wir wissen, es wird leider noch dauern, bis wir Europa zugerechnet werden. Hoffentlich nicht allzu lange.

Bis es sowiet ist, freuen wir uns aber sehr, wenn Europa zu uns kommt.

Meine sehr verehrten Gäste, heute ist Europa in Ihrer Gestalt in Estland zu Besuch. Herzlich willkommen!

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Frau von Weizsäcker,
meine Damen und Herren,
ich möchte mein Glas heben auf die Erfolge der Bundesrepublik Deutschland, auf die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den Esten und den Deutschen, auf Ihr persönliches Glück und Wohlergehen!

 

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